Bei der Premiere auf dem Wasen erlebt Stuttgart Zirkus in neuer Dimension – ohne Innenmasten im Zelt und mit mehr Artisten als je zuvor. Der Jubel bei der 31. Show ist überwältigend.
Wer den Weltweihnachtscircus auf dem Cannstatter Wasen betritt, glaubt, dass an diesem magischen Ort selbst das Zelt zaubern kann. Im Inneren gibt es keine Stützmasten mehr. Durch eine hochmoderne, aus Italien stammende Konstruktion befinden sich diese nun außerhalb des Zeltes – in Form zweier gespannter Rundbögen. Dadurch ist das komplette Sichtfeld auf die Manege frei.
Man fühlt sich leichter, freier – und genießt ein völlig neues Zirkusgefühl mit mehr Komfort, mehr Atmosphäre, mit einem Rundblick wie nie zuvor. Das ist Zirkus in einer neuen Dimension. Die holländischen Produzentenfamilie von Henk van der Meijden hat dafür tief in die Tasche gegriffen, um ihren Besuchern ein zeitgemäßes, großzügiges Raumgefühl zu schenken.
Grenzen werden immer wieder neu verschoben
Der Weltweihnachtscircus bleibt seinem Ruf treu, Grenzen immer weiter zu verschieben. Ein Jahr nach dem Jubiläumsprogramm zum 30. Geburtstag gelingt ihm ein weiterer Rekord, der selbst in der Zirkusgeschichte einzigartig ist: 120 Artisten wirken im Programm mit – so viele wie noch nie in einem europäischen Zirkus. Mit Orchester, allen Helfern backstage sowie in der Manege kommt die Zirkusfamilie auf 200 Mitglieder.
Im Finale der Benefizpremiere für die Olgäle-Stiftung hat man fast das Gefühl, die Manege müsse wegen Überfüllung geschlossen werden. So viele Künstler gleichzeitig im Rund zu sehen, erzeugt eine Wucht und Energie, die man in dieser Form nur selten erlebt.
Trotz der erheblichen Kosten für Zelt, Logistik und Künstler bleiben die Eintrittspreise unverändert. Nur zwischen Weihnachten und Silvester gibt es eine kleine Erhöhung. Im neuen Rundtheater finden 2500 Besucher Platz. Damit sich die hohen Investitionen und die durch die außergewöhnlich große Zahl an Artisten bedingten Personalkosten amortisieren, müssen möglichst viele Vorstellungen ausverkauft sein.
Der örtliche Veranstalter Hans-Peter Haag rät daher zu einer frühen Reservierung: „In den ersten Tagen gibt es meist noch ausreichend Karten, doch gegen Ende ist in der Regel alles ausverkauft – viele gehen dann leer aus.“ Eine Verlängerung der vierwöchigen Spielzeit sei nicht möglich, da zahlreiche Artisten anschließend zum Zirkusfestival nach Monaco weiterreisen, wo sie für Preise nominiert sind.
Der 88-Jährige, der mit jeder Premiere jünger wird
Zirkusgründer Henk van der Meijden, inzwischen 88, wirkt präsenter und energiegeladener denn je. Er sagt mit einem Strahlen: „Mit jeder Premiere werde ich fünf Jahre jünger – bei all den Glückshormonen und dem Adrenalin.“
Ein absoluter Höhepunkt: Beim „Schwanensee“ tanzt die Ballerina auf dem Kopf ihres Partners. Foto: LICHTGUT/Max Kovalenko
Der mehrfach preisgekrönte Grand Seigneur des europäischen Zirkus ist der Architekt der Dramaturgie: das Wechselspiel aus Tempo und Poesie, Überraschung und stiller Eleganz. Großes Kino ist gemischt mit einer Brise Erotik. Gemeinsam mit Tochter Elisa, seiner Frau Monica Strotmann und Schwiegersohn Dalien Cohen verfolgt er eine Maxime: Die Show in Stuttgart jedes Jahr neu erfinden – die Tradition zelebrieren, aber immer mit frischen Inhalt voller Überraschungen aufladen.
Einer der poetischsten Höhepunkte des Abends stammt aus China: Die Xi’an Acrobatic Troupe zeigt Schwanensee in einer artistischen Interpretation, die die Zuschauer in atemlose Stille versetzt. Auf nur 9,5 Quadratzentimetern tanzt die Ballerina auf Zehenspitzen auf den Schultern und dem Kopf ihres Partners – anmutig, schwerelos, vollkommen entrückt. Das erinnert mehr an ein Wunder als an artistische Höchstleistung.
Weltrekorde in der Luft und am Boden
Die 31. Show auf dem Wasen startet mit Tempo: Die größte Hutjonglage der Welt mit 22 Artisten aus China eröffnet das Programm – ein choreografierter Wirbelsturm aus Präzision und Rhythmus. Später folgt das größte Flugtrapez, das jemals in einer Manege zu sehen war: Bei den Flying Gonzalez fliegen 15 Artistinnen und Artisten wie wild durch die Luft.
Man könnte unzählige Besonderheiten aufzählen – von beeindruckender Hand-auf-Hand-Akrobatik bis hin zu meisterhafter Diabolo-Virtuosität, vom mongolischen Kraftpaket bis zum aberwitzigen Clown-Trio Equivokee und dem Bauchredner Willer Nicolodi vom Pariser Moulin Rouge. Futuristische Zirkuskunst kommt aus der Ukraine: Neun junge Künstler verwandeln die Manege mit einer spektakulären LED-Dance-Show in ein farbenprächtiges Fest.
Vier Shownummern sind für die Preise beim Zirkusfestival 2026 in Monte Carlo nominiert: Angelina Richter mit ihren Pferden, der italienische Clown Davis Vassallo, die Jonglier-Brüder Hermanos Reyes sowie die chinesische Dalian Acrobatic Troupe mit „Water météore“.
Auf seine Papageien muss Sergii Stupakov in Stuttgart verzichten – aber er verzaubert mit weißen Tauben Foto: LICHTGUT/Max Kovalenko
Sergii Stupakov fasziniert mit eleganter Taubenmagie. Seine Papageien darf er in Stuttgart jedoch nicht zeigen – sie gelten als Wildtiere, deren Einsatz auf Beschluss des Gemeinderats verboten ist. Doch Stupakov zeigt, dass Magie auch ohne exotische Tiere Intensität und Charme entfalten kann.
Pferdekunst zwischen Eleganz und Kraft
Traditionsgemäß gehören die Pferdenummern zu den emotionalen Höhepunkten. Angelina Richter präsentiert die Ungarische Post mit 21 Pferden – ein Weltrekord, der ihr ebenfalls eine Einladung nach Monte Carlo 2026 beschert. Giulia Giona aus Italien fügt dem Abend mit ihrer poetischen Freiheitsdressur eine leise, bewegende Note hinzu. Ihre harmonische Arbeit mit den Pferden wirkt wie ein tiefes, vertrautes Gespräch zwischen Mensch und Tier.
Warum Zirkus den Menschen guttut
Für Henk van der Meijden liegt die Magie des Zirkus darin, dass er Generationen verbindet: Gemeinsam staunen, lachen, den Atem anhalten – diese Momente stiften Nähe und werden gerade in einer immer hektischeren Welt zu seltenen Inseln des Zusammenseins. Der Eintritt kostet zwischen 25,90 und 70,90 Euro. „Damit zahlt bei uns das Publikum etwa nur die Hälfe von dem, was der Eintritt in den beiden Stuttgarter Musicalhäusern kostet“, sagt Henk van der Meijden.
Die Premiere macht deutlich: Stuttgart hat längst noch nicht alles gesehen – und das, obwohl die Stadt seit vielen Jahren mit herausragender Zirkus- und Varietékunst verwöhnt wird. Das neue Zelt ohne Mast im Inneren ist dabei weit mehr als ein technischer Fortschritt; es ist ein Versprechen, dass Stuttgart die deutsche Zirkushauptstadt bleiben soll. Und wenn es in diesem Tempo weitergeht, scheint Henk van der Meijden von Saison zu Saison um fünf Jahre zu verjüngen. Das Stuttgarter Publikum würde es ihm von Herzen gönnen.
Der Weltweihnachtscircus Stuttgart gastiert bis zum 6. Januar auf dem Cannstatter Wasen mit bis zu drei täglichen Vorstellungen. Karten gibt es online über die Webseite Weltweihnachtscircus, bei Easy Ticket Service oder telefonisch unter 0711-2 555555. Zusätzlich können Karten ohne Vorverkaufsgebühren (da spart man etwa 15 Prozent) an der Zirkuskasse gekauft werden, täglich von 9 bis 20 Uhr.