Der Renten-Streit ist nur das Symptom eines viel größeren Problems: Die Bevölkerung in Deutschland wird immer älter. Das hat enorme Auswirkungen auf die Wirtschaft und den Staatshaushalt.

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In wenigen Stunden wird der Bundestag über ein Rentenpaket abstimmen, das zu Unrecht den Namen „Reform“ trägt. Die Rente wird dadurch nicht sicherer, nur teurer. Durch das Gesetzespaket wird der Bund zwischen 2031 und 2040 insgesamt rund 120 Milliarden Euro mehr in die Rentenkasse überweisen müssen als bislang im Koalitionsvertrag vorgesehen.

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Mit großen Worten haben sich die Parteipolitiker der verschiedenen politischen Lager als letzte Bastion der Generationengerechtigkeit inszeniert. Die SPD kämpfe für die heutigen, die Junge Gruppe der Unionsfraktion für die künftigen Rentner.

Die Politik ignoriert, dass das Problem größer ist als die Rente

Politik für die Galerie: Das Milliardenpaket, das Kanzler Friedrich Merz heute mit seiner Zittermehrheit durchbringen will, hat das grundlegende Problem der Rente nicht gelöst, nur kaschiert: zu wenige Beitragszahler, zu viele Rentner und die zunehmende Manövrierunfähigkeit des Bundesetats

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Die Verlierer sind die Babys von heute. Sie haben aus Sicht der Politiker einen Vorteil: Sie können sich nicht wehren. Wenn sie später begreifen, was heute passiert ist, werden Friedrich Merz und Bärbel Bas im Nebel der Geschichte verschwunden sein.

Was die Regierung heute erneut ignorieren wird: Das Problem ist deutlich größer als die Rente. Der demografische Wandel – also die Halbierung der Geburtenrate seit den 60er Jahren – macht dem Land in vielerlei Hinsicht einen Strich durch die Rechnung.

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#1 Das Erwerbspersonenpotenzial schrumpft

Schon heute reicht der produktive Kern der deutschen Volkswirtschaft nicht aus, um die laufenden Ausgaben der Sozialsysteme zu finanzieren. 

Denn: Bis zum Jahr 2060 wird das Erwerbspersonenpotenzial (Gesamtzahl aller Menschen, die dem Arbeitsmarkt theoretisch zur Verfügung stehen) – so eine Projektion der Bertelsmann Stiftung – ohne Zuwanderung auf knapp 35 Millionen schrumpfen.

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#2 Die Kernschmelze setzt sich fort

Das schrumpfende Arbeitsangebot von Menschen im erwerbsfähigen Alter wird das sowieso schon geringe Potenzialwachstum in Deutschland (unter 0,5 Prozent in diesem Jahr) weiter reduzieren. Arbeit und Kapital sind die beiden Zutaten, die den produktiven Kern eines Landes befeuern. Schrumpft der Faktor Arbeit, schrumpft der Kern hinterher.

Die Folge, so schreibt es die Wirtschaftsweise Prof. Veronika Grimm in einem Beitrag für den Wirtschaftsdienst: 

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„Angesichts der absehbaren Verknappung von Arbeitskräften werden Unternehmen versuchen, die zukünftig fehlenden Arbeitskräfte durch verstärkten Einsatz von Kapital zu substituieren … Die Substitution von Arbeit durch Kapital erfordert eine strategische Umstellung auf relativ kapitalintensive Produktionsmethoden durch eine Erweiterung des produktiven Kapitalstocks. So dürfte die Automatisierung mittels Industrierobotern in bestimmten Branchen und Tätigkeitsfeldern dazu beitragen, den Mangel an Fachkräften auszugleichen.“

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Das einzige Problem: Woher kommt das Kapital? Und: Die neue Automatisierungstechnik zahlt keine Sozialbeiträge. Das Sozialsystem trocknet weiter aus.

#3 Staatshaushalt gerät aus der Balance

Wenige Erwerbstätige bedeuten weniger Steuereinnahmen, während die Ausgaben für Rente, Gesundheit und Pflege stark steigen. Der Staat rutscht dadurch strukturell in höhere Defizite und hat weniger Spielraum für Investitionen. Das Budget versteinert, wie das Dezernat Zukunft voraussagt.

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#4 Krankenkasse: Der Restrukturierungsfall 

Was für die Rente gilt, gilt in besonderem Maße auch für die Krankenkassen – die erste Säule des deutschen Gesundheitssystems.

Die alternde und damit kränker werdende Bevölkerung, die sinkende Zahl aktiver Arbeitnehmer und Einzahler, sowie steigende Kosten für medizinische Fortschrittstechnologien machen die gesetzlichen Krankenkassen zum Restrukturierungsfall.

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Laut einer aktuellen Studie der Unternehmensberatung Deloitte könnte sich der finanzielle Fehlbetrag der gesetzlichen Krankenversicherung im Jahr 2030 – also in knapp vier Jahren – bereits auf 87 Milliarden Euro belaufen. Wohlgemerkt: Auch wenn alle im Koalitionsvertrag geplanten Maßnahmen zu weiteren Einsparungen umgesetzt würden.

#5 Die Pflegelücke

Die Zahl der Menschen, die in Deutschland von Pflege­bedürftig­keit betroffen sind, steigt. Im Dezember 1999 gab es zwei Millionen Pflege­bedürftige, im Dezember 2009 war ihre Zahl auf 2,3 Millionen gestiegen und Ende 2023 waren es bereits 5,7 Millionen pflege­bedürftige Menschen – so die Daten des Statistischen Bundesamtes.

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Das Problem: Das Pflegesystem in Deutschland ist vom Fachkräftemangel stark betroffen – im Jahr 2024 fehlen rund 130.000 Pflegekräfte. Die steigende Belastung wird nach den aktuellen Prognosen des Statistischen Bundesamtes im Jahr 2049 zu einem Mangel von 690.000 Fachkräften führen. Fehlende Menschen kann auch ein steigender Bundeszuschuss nicht ersetzen. 

#6 Silver Tsunami auf dem Immobilienmarkt

Auch beim Eigenheim als Wertanlage schlägt der demografische Wandel durch. Christof Schürmann, Analyst beim Flossbach von Storch Research Institute, schreibt in einer aktuellen Studie: 

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„Wer weit in die Zukunft schaut, muss sich bei alternden, wahrscheinlich kaufkraftschwächeren Gesellschaften fragen, wer denn die Käufer von übermorgen sind.“

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Anders ausgedrückt: Wer heute eine Immobilie kauft, läuft mehr denn je Gefahr, einen überteuerten Preis für ein Objekt zu zahlen, das er später schwerlich verkauft bekommt. Zumindest im ländlichen Raum, für dessen Immobilien sich kein Investor aus London, New York oder Shanghai interessiert, dürften die Renditen tendenziell sinken.

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Dieses Phänomen wird in den USA als „Silver Tsunami“ diskutiert. Die Theorie: Eine zunehmende Zahl älterer Menschen – mit grauem („silver“) Haar – verkauft, verschenkt oder vererbt ihre Immobilien an eine immer geringere Zahl junger Menschen. Das Angebot nimmt strukturell zu. Die Nachfrage, und damit der Preis, sinkt.

Fazit: Das deutsche System der Sozialstaatsfinanzierung – das auf Menschen und nicht auf Kapitalerträgen beruht – ist nicht rettbar. Dennoch wird der Systemwechsel heute im Bundestag nicht nur nicht beschlossen. Er wird auch nicht besprochen. Und wahrscheinlich wird er nicht mal gedacht.

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