Viele Menschen werden Opfer von Straftaten oder Unfällen – und brauchen Hilfe. Die Beratungsstellen des Vereins Seehaus kommen kaum hinterher. Die Fälle sind oft tragisch.
Die junge Frau ist sichtlich nervös. Sammy Neumann, die eigentlich anders heißt, sitzt in der Rosenbergstraße in Stuttgart in einem nüchternen Büro. Auf dem Tisch sind zahlreiche Karten verteilt. Sie zeigen verschiedene Emotionen. Drei soll sie auswählen, die ihr früheres Leben beschreiben. Zu „Liebe“ greift sie, „Freude“ und „Entspannung“. Die junge Stuttgarterin hat ein normales Leben geführt mit ihrem Mann, ihren drei kleinen Kindern, Freunden und einem Job an der Kasse im Supermarkt.
Das war einmal. Denn jetzt sieht die Lage ganz anders aus. Seit zwei Monaten hat sich ihr Leben komplett auf den Kopf gestellt. Auf ihre heutigen Emotionen angesprochen, greift sie zu „Angst“, „Unsicherheit“, „Trauer“. Dabei ist niemand gestorben – oder vielleicht doch. Nämlich der Teil von Sammy Neumanns Leben, der unbeschwert gewesen ist.
Aggressiver Kunde schlägt Scheibe ein
Vor zwei Monaten, da war sie bei der Arbeit an der Kasse. Ein Kunde, in dessen Tasche sie schauen wollte, reagierte unwirsch, beschimpfte sie, bedrohte sie, beobachtete sie eine Weile und kam dann zurück. Der Mann schlug die Scheibe an der Kasse ein und verpasste auch Sammy Neumann einen Schlag. Körperlich wurde sie nur leicht verletzt. Doch die Narben auf der Seele verheilen nur sehr langsam.
Seitdem traut sie sich nicht mehr ohne Begleitung auf die Straße. „Ich habe Albträume, muss Medikamente nehmen, damit ich schlafen kann“, erzählt sie. Ist sie draußen, dreht sie sich ständig um. Einmal in der Woche nimmt sie eine Freundin mit zum Bäcker, um einen Kaffee zu trinken. „Ich kann das nicht mehr genießen, finde keine Ruhe mehr“, sagt die junge Frau. Auch die Sorge um den Arbeitsplatz treibt sie um, denn sie ist seit dem Vorfall krankgeschrieben. Die Tränen laufen, als sie erzählt.
An diesem Tag sitzt sie in der Stuttgarter Opfer- und Traumaberatungsstelle des Leonberger Vereins Seehaus. Eine Freundin hat sie herbegleitet. Ihr gegenüber hat Elvira Pfleiderer Platz genommen. Die Traumapädagogin und Bereichsleiterin hört zu und macht praktische Übungen mit der Klientin. Fünf solcher Beratungsstellen für die Opfer von Straftaten und Unfällen betreibt Seehaus – neben der im Stuttgarter Westen noch in Leonberg, Herrenberg, Schwäbisch Gmünd und Sinsheim. Sechs professionelle Mitarbeitende kümmern sich dort um die Klienten, die meist direkt oder über die Polizei kommen.
Der Bedarf ist riesig. „Im vergangenen Jahr haben wir insgesamt 2700 Gespräche mit über 500 Klienten geführt“, sagt Elvira Pfleiderer. Dabei sind oft die Familien eingebunden, denn Opfer werden häufig nicht nur die direkt Betroffenen, sondern auch ihr Umfeld. Erwachsene werden gleichermaßen begleitet wie Kinder und Jugendliche.
Die Beratungsstellen sind komplett spendenfinanziert. Aus finanziellen Gründen musste eine sechste, nämlich die in Zuffenhausen, jüngst geschlossen werden. Die Aktion Weihnachten der „Stuttgarter Nachrichten“ hat die Opfer- und Traumaberatung des Vereins Seehaus deshalb als eines der Schwerpunktprojekte in diesem Jahr ausgewählt, damit das niederschwellige und kostenlose Angebot eine Zukunft hat.
Sammy Neumann ist inzwischen mit Elvira Pfleiderer in den Innenhof des Gebäudes gegangen. Dort befindet sich ein kleiner Park. Eigentlich eine geschützte Umgebung, und doch schaut sich die junge Frau immer wieder nervös um. Ein paar Schritte alleine gehen, das ist eine Herausforderung – und doch der Weg zurück ins Leben. „Ich wünsche mir wieder Normalität, frei zu sein, mich freuen zu können“, sagt die dreifache Mutter. Wieder mit den Kindern zum Fußballtraining gehen zu können, das ist ein großes Ziel.
Eine geschützte Atmosphäre und Vertrauen sind unabdingbar für die Gespräche. Foto: Seehaus e.V./Harald Krodel
Elvira Pfleiderer macht Atem- und Kopfübungen mit ihrer Klientin. „Wenn sie auf einen Therapieplatz warten müsste, würde das ein halbes oder gar ein ganzes Jahr dauern“, sagt die Expertin. Bis dahin wären die Probleme längst chronisch geworden. Vielen Klienten könne man so gut helfen, dass eine Therapie danach gar nicht mehr nötig sei, so Pfleiderer. Irgendwann, sagt sie, hoffe man auf Landesmittel, um das Projekt sicherzustellen. Bis dahin aber braucht es Spenden.
So können Sie spenden
Spende
Unter diesem Link können Sie direkt und unkompliziert online für die Benefizaktion Aktion Weihnachten spenden: stn-hilft.de. Wer selbst überweisen will, die Konten lauten: Baden-Württembergische Bank, IBAN DE04 6005 0101 0002 3423 40, oder Schwäbische Bank, IBAN DE85 6002 0100 0000 0063 00. Sachspenden können wir aus logistischen Gründen leider nicht annehmen.
Verein
Die Aktion Weihnachten leistet seit 54 Jahren unkompliziert Nothilfe. Außerdem fördert sie soziale Projekte in Stuttgart und der Region. Ermöglicht wird dies durch die großzügigen Spenden unserer Leserinnen und Leser sowie engagierter Unternehmen und Stiftungen. Alle Artikel zur laufenden Spendenaktion finden Sie unter www.aktionweihnachten.de.