Das könnte wieder ein trauriges Weihnachtsfest für Markus Braun werden. Der einstige Chef des zusammengebrochenen Online-Zahlungsdienstabwicklers Wirecard sitzt seit Ende Juli 2020 in Untersuchungshaft. Rund fünf Jahre und vier Monate ist der 56-Jährige kein freier Mann mehr. Die Justizvollzugsanstalt München, in der Stadt nur Stadelheim genannt, wurde zu seinem Zwangs-Zuhause.
Für den gebürtigen Österreicher, der Wirecard einst vorübergehend in den Dax, die erste deutsche Börsen-Liga, geführt hat, dürften die emotional aufgeladenen Tage des Jahresendes eine erneute psychische Belastungsprobe werden. Denn der zuständige Strafsenat hat noch nicht über die Haftbeschwerde für den tief gefallenen Manager entschieden. In den vergangenen Jahren nutzten entsprechende Aktionen seiner Verteidigerinnen und Verteidiger nichts: Der Wirtschaftsinformatiker musste in Untersuchungshaft ausharren und ein Stadelheimer bleiben. Er sieht nicht, wie Tierfreunde allmorgendlich ihre Hunde auf dem breiten Grünstreifen vor dem Gefängnis frei laufen lassen und Kinder zur Schule gehen. Der Blick auf Mauern begrenzt seine Existenz.
Zu Weihnachten gibt es Würste mit Kartoffelsalat in Stadelheim
Passiert nicht ein vorweihnachtliches Wunder, bleibt Braun nichts übrig, als mit dem Advents- und Weihnachtsprogramm in Stadelheim Vorlieb zu nehmen. Immerhin kann er Besuch empfangen und an diversen Gottesdiensten teilnehmen. Höhepunkt ist sicher die festliche Vor-Weihnachtsmesse am 17. Dezember, wenn der Tölzer Knabenchor auftritt. Regierungsdirektor Clemens Schmid, Leiter der Justizvollzugsanstalt München, gewährt Einblicke in das auch dem früheren Wirecard-Boss bevorstehende kulinarische Knast-Programm: An Heiligabend gibt es Spargelcremesuppe und verschiedene Würste wie Debrecziner und Wiener mit Kartoffelsalat. Am ersten Weihnachtsfeiertag ist eine Hähnchenkeule mit Reis und Salat im Angebot, während am 26. Dezember Zucchini-Cremesuppe, Rinderbraten mit Nudeln und Blaukrautgemüse locken. Natürlich kommen Vegetarier und Veganer nicht zu kurz.
Zu einem Rinderbraten wäre ein Glas Rotwein nicht verkehrt. Oder gibt es ausnahmsweise für den früheren Wirecard-König einen Glühwein? Mehr als fünf Jahre hinter Gittern sind eine harte Prüfung. Selbst an Weihnachten und Silvester herrscht ein strenges anti-alkoholisches Regiment in Stadelheim – „und das aus Gründen der Sicherheit und Ordnung“. Also keine Chance für die Insassen auf ein Glas Rotwein oder einen echten Glühwein. Immerhin werden die Räume, in denen Gottesdienste gefeiert werden, mit Adventskränzen und beleuchteten Tannenbäumen verziert. Weihnachten im Gefängnis ist durchaus stimmungsvoll: In jeder Abteilung der Justizvollzugsanstalt steht ein Weihnachtsbaum, der „von den dort tätigen Personen gegebenenfalls im Zusammenwirken mit Gefangenen dekoriert wird“. Ob Braun ein Händchen dafür hat?
Silvester gestaltet sich umfassend nüchtern für den einstigen Top-Manager und seine Mit-Gefangenen, denn „es findet kein spezielles Feuerwerk für die Insassen statt“. Braun wird, wenn die Menschen jenseits der hohen weißen Wände Raketen steigen lassen, auf das spartanische Gefängnis-Leben verwiesen.
Rechtsanwältin kritisiert Fortdauer der U-Haft
Seine Rechtsanwältin Theres Kraußlach hat zu alldem eine klare Meinung. Unsere Redaktion lässt sie wissen: „Die lange Untersuchungshaft ist absolut unverständlich. Ein weiteres Weihnachtsfest in der JVA stellt eine unzumutbare Härte dar.“ Die Verteidigerin glaubt, es werfe reichlich Zweifel auf die Rechtsstaatlichkeit, dass Braun bis heute in Untersuchungshaft ist. Die Juristin aus Erfurt legt nach: „Es wurde bereits unzählige Male vorgetragen, aus welchen Gründen es offenkundig ist, dass Herr Braun nicht in die strafbaren Handlungen involviert war.“ So sehen das der Angeklagte und seine Fürsprecherin. Es ist aber nun einmal so, dass in der deutschen Strafprozessordnung keine Höchstdauer für die Untersuchungshaft festgelegt ist. Der Angeklagte könnte bis zum Urteil hinter Gittern bleiben.
Braun weicht keinen Millimeter von seinem festen Glauben ab, er sei selbst ein Wirecard-Geschädigter und nicht Teil einer betrügerischen, gewerbsmäßigen Bande gewesen, wie ihm vorgeworfen wird. Die Bande sind nach seiner Lesart die anderen, eben der in Russland untergetauchte frühere Wirecard-Vertriebsvorstand Jan Marsalek, 45, und der einstige Dubai-Statthalter des Skandal-Unternehmens, Oliver Bellenhaus. Letzterer zeigte sich geständig und hofft als Kronzeuge der Anklage auf einen Strafrabatt. Der 52-Jährige sitzt im Münchner Prozess nur gut einen Meter hinter Braun, der sich zusammenreißt und den Abtrünnigen zu ignorieren versucht. Der frühere Wirecard-Chef muss einen starken Willen haben. Bleich im Gesicht sind beide Angeklagten, wobei sich der Teint von Bellenhaus, seit er 2024 der U-Haft entkommen ist, etwas verbessert hat. Braun bekommt weniger Tages-Licht ab.
Braun trägt wieder seine Gerichts-Uniform
Auf alle Fälle dauert der Wirtschaftsprozess, einer der spektakulärsten in der bundesdeutschen Justizgeschichte, am 8. Dezember drei Jahre an. Ein Ende deutet sich für kommendes Jahr an. Wann das Urteil gegen Braun und seine Mitangeklagten gefällt wird, ist unklar. Jahr um Jahr wurde das Haar des hageren, groß gewachsenen Ex-Wirecard-Zampanos schütterer. Dabei trägt er bevorzugt seine spezielle Angeklagten-Uniform, einen dunklen Anzug samt schwarzem Rollkragen-Pullover. Braun sieht aus wie ein Priester. 235 Prozesstage liegen hinter dem Mann, der konsequent seine Unschuld beteuert und Woche für Woche mit Laptop und Kabel unter dem rechten Arm durch eine Seitentür des holzgetäfelten Gerichtssaals tritt, um auf der Anklagebank Platz zu nehmen, den Rechner einzustöpseln, den Kopf verlässlich zur Seite zu legen und konzentriert dem Geschehen zu folgen. Sein stetiges Spiel mit den Händen allerdings lässt eine gewisse Nervosität erahnen.

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Wirecard hatte es einst sogar in den Dax geschafft.
Foto: Peter Kneffel, dpa
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Wirecard hatte es einst sogar in den Dax geschafft.
Foto: Peter Kneffel, dpa
Es steht viel für Braun auf dem Spiel. Ihm werden unter anderem gewerbsmäßiger Bandenbetrug und Untreue vorgeworfen. Dem Angeklagten droht eine Gesamtfreiheitsstrafe von theoretisch bis zu 15 Jahren. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Ex-Wirecard-Boss im Kern vor, mit Mitstreitern darauf hingearbeitet zu haben, den Konzern als rasant wachsendes, überaus erfolgreiches Finanz-Unternehmen darzustellen und dafür enorm gewinnbringende Geschäfte in Asien erfunden zu haben. Doch inzwischen schält sich seit der Wirecard-Pleite im Jahr 2020 immer sicherer heraus, dass diese Beträge von zusammen etwa 1,9 Milliarden Euro nicht existieren. Der Schaden ist enorm: Der einstige Linken-Politiker Fabio De Masi, ein Kenner des Wirecard-Skandals, spricht davon, „über 20 Milliarden Euro Börsenwert haben sich über Nacht in Konfetti aufgelöst“. Geschädigte sind Banken, Anleger und Angestellte.
Eine der ehemaligen Beschäftigten sitzt als Zeugin am 3. Dezember vor Gericht. Die junge Frau hat ihren kleinen Buben mitgebracht. „Ich habe niemanden, der ihn betreuen kann“, sagt die aufgeregt wirkende frühere Angestellte des Unternehmens. Mit ihrem Kind kehrt Fröhlichkeit in die gedrückte Stimmung des Stadelheimer Gerechtigkeitskellers ein, in dem die Zeit bleiern stehen zu bleiben scheint. Die Mutter hat sich ihren Sohn zunächst um den Bauch geschnallt. Er gibt lustige Laute von sich, spielt mit einem Päckchen Papier-Taschentüchern, beißt auf ihm herum, klopft mit einem Blatt Papier auf das Mikrofon, wird schließlich auf den Boden gesetzt, krabbelt im Gerichtssaal umher und klaut sich eine Wasserflasche. Richter Markus Födisch, der die Zeugin an dem Tag unbedingt befragen will, bleibt gelassen und meint humorvoll: „Das ist Diebstahl in einer öffentlichen Verhandlung.“
Eine Zeugin bringt ihr Kind zum Prozess mit
Fast alle lachen, Braun spärlicher als andere. Die frühere Wirecard-Mitarbeiterin gewährt Einblicke in ihren einstigen Berufsalltag. Sie war eine einfache Sachbearbeiterin. Wenn Interessenten von dem Unternehmen etwa eine Kreditkarte und Konten wollten, war es ihre Aufgabe, „zu schauen, ob die Unterlagen passen und die Internetseite ein Impressum hat“. Sie machte, was ihr auf den Tisch gelegt wurde. „Vielleicht war ich blauäugig“, räumt die Mutter ein, deren Sohn fast den Ausgang des Gerichtssaals erreicht hat. Zu den Anklagebänken und Braun zieht es den Kleinen nicht hin. Er steckt lieber zwei Pappbecher ineinander und lacht. Das sind ungewöhnliche Szenen eines ungewöhnlichen Prozesses. Es fügt sich gut, dass der Bub nicht versteht, dass seine Mutter ehedem Porno-Internetseiten möglicher Kunden überprüft hat. „Adult Entertainment“ nennt sie das vor Gericht. Letztlich weint die Frau, als sie an das Ende des Unternehmens erinnert wird. Braun hält das nicht davon ab, ihr Fragen zu stellen.
Wer vor der Insolvenz in der Wirecard-Zentrale in Aschheim bei München etwa im Jahr 2018 zu Gast war, dem wurde versichert, die Schmuddelbranchen „Porno“ und „Glücksspiel“ seien nicht mehr so wichtig, die Umsätze lägen hier nur noch „im einstelligen Prozentbereich“. Prozess-Berichterstattern zeigt sich ein anderes Bild, auch durch die Ausführungen der jungen Frau. Zuletzt häuften sich Medienberichte über den Online-Glücksspiel-König Calvin Ayre, aus dessen Imperium früher hunderte Millionen über die Wirecard-Konten geflossen sein sollen. Der Sohn eines kanadischen Schweinebauern lebt angeblich auf Antigua in der Karibik. Ohne Wirecard, heißt es, hätte er sein Business nicht betreiben können. Er sei der eigentliche Mann hinter dem Skandal-Unternehmen gewesen.
Auch ein gewisser Ray Akhavan scheint wichtig für Wirecard gewesen zu sein. Der inzwischen gestorbene gebürtige Iraner hieß nur „der Porno-Baron“ und war dem Vernehmen nach eng mit Marsalek zugange, der inzwischen als Agent des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB arbeiten soll. Marsalek habe den Geschäftspartner mit „my Love“ angeschrieben, wobei der einstige Wirecard-Vorstand bekanntermaßen intensiv dem weiblichen Geschlecht zugetan ist. Auf alle Fälle pflegte der nach Moskau abgehauene Marsalek den „Porno-Baron“ und ließ ihm, wie das Handelsblatt weiß, Geschenke wie einen Gucci-Babybody sowie ein Kleid und Gummistiefel von Burberry zukommen. Marsalek liebte den Luxus und wusste, Feste ehedem auch in München exzessiv zu feiern.
Es steckte demnach mehr Schmuddelkram in Wirecard als behauptet. Und Marsalek? Der aus Augsburg stammende Privat-Ermittler Tamer Bakiner hatte als einer der Ersten rausgefunden, dass sich der wie Braun aus Österreich stammende Hasardeur und Geheimdienst-Freund per Flugzeug nach Weißrussland und schließlich nach Moskau abgesetzt hat. Dort soll er heute unter anderem Oligarchen helfen, Sanktionen zu umgehen. Bakiner erinnert sich: „Marsalek saß noch einen Tag vor seiner Flucht friedlich beim Italiener in München. Wenn einer wie er genügend Geld hat, kann er locker zunächst spurlos verschwinden.“ Nach Kenntnissen des Ermittlers heißt es, der frühere Wirecard-Vorstand sei mit rund 500 Millionen Euro in Krypto-Währung abgehauen. Er habe eine entsprechende Festplatte mitgenommen. Für Bakiner ist klar, dass Marsalek „reichlich Geld in Russland als Gegenleistung für seine Sicherheit abdrücken musste“. Nach Deutschland komme Marsalek nie wieder zurück. Aber vielleicht lasse er Braun nach dessen Freilassung „Kryptos“, also Geld für ein neues Leben, zukommen. Bakiner hatte einst in einer Reportage für den Sender RTL in einem Selbstversuch unter Beweis gestellt, dass es mit dem nötigen Kleingeld möglich ist, unterzutauchen, ohne Spuren zu hinterlassen.
Marsalek soll für den russischen Geheimdienst arbeiten
Marsalek, dem Journalisten in Moskau nach Jahren doch aufgelauert haben, hat während des Prozesses in München über seinen Anwalt einen Brief lanciert, in dem er die Glaubwürdigkeit des Kronzeugen Bellenhaus anzukratzen versucht. Das ist eine der zahllosen Merkwürdigkeiten der an Seltsamkeiten überreichen Wirecard-Affäre. Abstrus wirkt besonders, wie Braun als U-Häftling und Angeklagter in einem schriftlich geführten Interview mit dem Stern sich in ein besseres Licht zu rücken versucht. Er hält es für „unbestreitbar, dass mich ein unvorhergesehener Rückschlag, ein schwarzer Schwan, mit existenzieller Wucht getroffen hat“. Das werde ihn nicht davon abhalten, wieder aufzustehen, fügt Braun martialisch hinzu. Schwarze Schwäne sind selten. Für Braun ist die lange Zeit der Untersuchungshaft „eine absolute Grenzerfahrung“. Man müsse lernen, mit der Isolation umzugehen. Er komme mit dem Alltag zurecht, vermisse aber am meisten seine Familie.
Der Wirecard-Stadelheimer fühlt „noch viel Kraft und Energie“ in sich und kündigt für die Zeit nach seiner Freilassung an: „Ich werde mich definitiv neuen Themen widmen und bis ins hohe Alter arbeiten. Darauf freue ich mich schon.“ So hartnäckig er Wirecard bis zum Kollaps immer größer gemacht hat, so ausdauernd beteuert er seine Unschuld und will dem schwarzen Schwan entkommen. Vielleicht muss ein Mensch derart vorsätzlich an sich glauben, um 235 Prozesstage über drei Jahre hinweg zu überstehen und zu beteuern: „Ja, selbstverständlich strebe ich einen Freispruch an.“ Was muss dann für eine dunkle Wand vor seinen Augen erscheinen, wenn es irgendwann im kommenden Jahr anders kommt?
Das Verfahren ist schon jetzt rekordverdächtig. Der Münchner Audi-Prozess um den Abgas-Betrug kam mit 172 Verhandlungstagen aus. 438 werden es im Wirecard-Verfahren hoffentlich nicht, auch wenn immer neue Geschichten und Personen auftauchen. So lange dauerte das NSU-Verfahren in der Landeshauptstadt um die Morde der rechtsextremen Terrorgruppe. Richter Födisch ist jedenfalls ein geduldiger, unverdrossen Frage um Frage stellender Jurist. Seine Hartnäckigkeit steht der Brauns in nichts nach.
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Stefan Stahl
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