Tahsim Durgun, Sohn jesidischer Kurden aus der Osttürkei, ist ein erfolgreicher Youtuber, Instagram-Star, Buchautor und gern gesehener Interviewgast, weil er mit Humor über Migration, Rassismus, die AfD und Deutschland als Einwanderungsland spricht. Auf Karrieren wie die des Neunundzwanzigjährigen verweisen Politiker gern und sagen: Seht her, in Deutschland bekommt jeder eine Chance. Wenn er nur wolle.
Die Wahrheit ist: Dieses Land und die traumatische Vergangenheit seiner aus ihrer Heimat vor Verfolgung geflohenen Eltern haben es dem in Oldenburg geborenen Tahsim Durgun nicht gerade leicht gemacht, auf die Sonnenseite des gesellschaftlichen Lebens zu wechseln. Von diesem beschwerlichen Weg erzählt Durgun in unverkennbarem Sound in seinem auch als Hörbuch erschienenen Debüt „Mama, bitte lern Deutsch. Unser Eingliederungsversuch in eine geschlossene Gesellschaft“ (Droemer Knaur Verlag, 18 Euro; als Hörbuch ab 9,99 Euro).
Dass er das Hörbuch selbst eingelesen hat, versteht sich von selbst. Eine geschliffene Schauspielerstimme hätte seine Geschichte bloß verwässert und sie ihrer Authentizität beraubt. Da es bei Durgun viel um die deutsche Sprache als Schlüssel zur gesellschaftlichen Teilhabe geht, hat er seinen Kapiteln Titel gegeben wie „Mama, was sind Alliterationen?“, „Mama, was ist eine Metapher?“ oder „Mama, was sind Nomen?“ Das Buch ist auch eine Liebeserklärung an seine Mutter, die, obwohl sie seit Jahrzehnten in Deutschland lebt, kaum Deutsch spricht und ohne ihre dolmetschenden Kinder im Alltag oft verloren wäre.
Gebrauchte Spritzen auf dem Spielplatz
Durgun wächst mit seinen Eltern, einem Bruder und zwei Schwestern in einem Oldenburger Wohnblock auf. In der Nähe gibt es einen Supermarkt, eine Anlaufstelle des Deutschen Roten Kreuzes, eine Tafel und einen Spielplatz, auf dem Schnapsflaschen und gebrauchte Spritzen herumliegen. Die Familien aus der Nachbarschaft sind kurdisch, türkisch, russisch oder arabisch. Deutsche leben dort wenige, und wenn, erzählt Durgun, schotteten sie sich ab. Er nennt diesen Ort „Gerüstlandschaft“, und seine Hörbuchstimme klingt warm und verletzlich, wenn er von dieser Gerüstlandschaft erzählt.
In der Schule ist Durgun wegen seines Migrationshintergrunds ein Außenseiter und hat mit Hamza nur einen Verbündeten in der Klasse. Die Mareikes und Svens dominieren das schulische Geschehen und geben den Ton an. Just jene Mareike bricht einmal in Tränen aus, als Durgun – die Klasse sitzt brav in einem Stuhlkreis und erzählt von ihren Ferienerlebnissen – berichtet, dass sie bei seinem Onkel auf dem Bauernhof ein Schaf geschlachtet haben. Mareike also schluchzt: „Mein Opa hat auch Schafe, und die sind total süß, das sind meine Freunde. Macht man das da so, wo ihr herkommt?“ Der Unterschied zwischen ihm und den „Rieketonias“, so Durgun, sei folgender: „Während sie Fleisch aßen, aber mit dem Töten der Tiere nichts zu tun haben wollten, wurden wir durch das Töten als ‚rückständig‘ bezeichnet. Dabei schlachten wir Tiere nicht, um uns an ihrem Leid zu erfreuen. Wir tun das zu besonderen Anlässen, etwa zum Opferfest oder wenn jemand in der Familie eine Operation überstanden hat.“ Als Zeichen der Dankbarkeit.
Auf einem Schulbasar, bei dem die Mütter selbst gemachte Speisen anbieten, scharen sich die Frauen um den Stand von Durguns Mutter, rümpfen die Nase, fragen skeptisch, welche Zutaten in den Speisen seien, und beschweren sich über die Schärfe des Bulgursalats. Die Frau, die jeden Morgen um fünf Uhr aufsteht und putzen geht, lächelt freundlich, weil sie die Feindseligkeiten nicht versteht. Als Mareikes Mutter schließlich den Geschmack des Böreks lobt, sagt Durgun, um sich zu rächen: „Das Tier dafür haben wir heute Morgen geschlachtet. War noch ein Baby. Da ist ganz viel Blut rausgekommen. Hat alles vollgespritzt. Nicht wahr, Mama?“
Alltagsrassismus als ständiger Begleiter
Man könnte über Passagen wie diese lachen, spiegelte sich in ihnen nicht ein weit verbreitetes Misstrauen gegenüber Fremden. Alltagsrassismus ist Durguns ständiger Begleiter. Ob in der Schule oder auf Ämtern. Selbstverständlich besucht er auf Wunsch seiner Klassenlehrerin den Förderunterricht – und „lernt“ dort unter anderem, was er als Viertklässler bereits seit zwei Jahren weiß: was Nomen sind. Ein Austausch mit der Lehrerin findet nicht statt. Durgun bekommt eine Empfehlung für die Hauptschule. Einmal sagt er, er fühle sich, als lade er Deutschland immer wieder zu seinem Kindergeburtstag ein – und Deutschland sage immer wieder ab.
Die Heldin dieses Buches ist Durguns Mutter, die in ihrer eigenen Sprache den Platz der Poetin innerhalb der Familie einnimmt. Über sie zu schreiben, heißt für Durgun, sie besser zu verstehen und gleichzeitig Deutschland zu erklären. Wenn nicht er das tue, ihr Sohn, „dann macht das einer wie Friedrich Merz bei ‚hart aber fair‘, und das möchte ich ihr – eigentlich uns allen – ersparen.“
Denn jeder, so der Autor, kenne eine Person wie seine Mutter. Die schüchterne, aber freundliche Frau, die abends das Büro putzt? Seine Mutter. Die penetrant laute Person an der Bushaltestelle, die Sonnenblumenkerne knackt? Seine Mutter. Eine Frau, die als „Nebendarstellerin“ unserer Gesellschaft wahrgenommen wird? Seine Mutter. Er übersetzt für sie die Aldi-Prospekte, begleitet sie zum Arzt und zu Behörden. Eines Tages kommt ein Brief, wieder muss Durgun übersetzen: „Widerruf der Asylberechtigung/Flüchtlingseigenschaft“. In der Türkei liege keine grundsätzliche Verfolgung der Jesiden mehr vor, weshalb beabsichtigt sei, die asylrechtliche Begünstigung zu widerrufen. Innerhalb einer vierwöchigen Frist könnten Durgun und seine Geschwister dazu Stellung beziehen. Plötzlich droht ihm, der in Deutschland geboren und dessen längste Reise nach Hannover gewesen ist, die Abschiebung. Durgun vereinbart einen Termin bei der Ausländerbehörde und sitzt schließlich gemeinsam mit seiner Mutter und der Schwester vor einer überkorrekten Sachbearbeiterin, die Demütigungen zu genießen scheint: Mareikes Mutter.
Die deutsche Staatsbürgerschaft
Von diesem Tag an trainierte Durgun für die Besuche bei der Ausländerbehörde so hart wie für einen Leistungssport. „Ich lernte intensiver Deutsch. Ich begann, Bücher zu lesen – und irgendwann auch Zeitungen. Nicht weil diese Medien das ‚1×1 How to Survive Ausländerbehörde‘ enthielten, sondern weil ich mir die Sprache der Menschen aneignen wollte, die über uns verfügen konnten. Ich wollte dafür sorgen, dass ich, dass wir irgendwann genug sein würden.“ Es gelingt ihm. Inzwischen hat Durgun die deutsche Staatsbürgerschaft.
Wer nie wie Tahsim Durgun und seine Familie Ausgrenzung erlebt hat, wer nie wegen seiner Herkunft diskriminiert und rassistisch beleidigt wurde, kann die Angst vor Abschiebung und die Existenz am Rande der Gesellschaft als Unsichtbarer nicht nachempfinden. Aber das muss man auch gar nicht. Es wäre schon ein Anfang, Tahsim Durgun zuzuhören. Mit „Mama, bitte lern Deutsch“ geht er von November an auf Bühnentour.