In den 2000ern hing am New Yorker Times Square ein riesiges Werbeplakat von P. Diddy. Es zeigte den Rapper in Siegerpose mit ausgestreckter Faust. Als Joi Dickerson-Neal das Plakat das erste Mal sah, musste sie sich übergeben. P. Diddy war damals überall in der amerikanischen Öffentlichkeit präsent. Und Joi Dickerson-Neal wurde jedes Mal schlecht, wenn sie sein Bild erblickte. „Als er berühmt wurde, fühlte ich mich so hilflos“, erzählt sie in der ersten Folge von „The Reckoning“, zu Deutsch: die Abrechnung.

In der vierteiligen Netflix-Dokumentation über den Aufstieg und Fall des Rappers und Musikproduzenten P. Diddy, bürgerlich Sean Combs, wirft Dickerson-Neal ihm vor, sie Anfang der Neunziger unter Drogen gesetzt und vergewaltigt zu haben. Videoaufnahmen davon soll er auf Partys auf großen Bildschirmen gezeigt haben. Im November 2023 hatte Dickerson-Neal Combs deswegen verklagt. Es war eine der ersten der mehr als 80 Zivilklagen, die gegen ihn erhoben wurden.

„Es tut weh, es tut verdammt weh“

Viele dieser Klagen sind noch anhängig. Doch in seinem größten Prozess scheint P. Diddy mit einem blauen Auge davongekommen zu sein. Am 3. Oktober hatte ihn ein New Yorker Gericht zu rund vier Jahren Haft verurteilt, nachdem ihn die Geschworenen wegen des Transports von Prostituierten über Staatsgrenzen hinweg schuldig gesprochen hatten. In den Anklagepunkten, die ihn für Jahrzehnte hinter Gitter gebracht hätten, also den Vorwürfen des Sexhandels und der organisierten Kriminalität, hielt ihn die Jury für unschuldig.

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In „The Reckoning“ treten zahlreiche Menschen vor die Kamera, denen Combs Schlimmes angetan haben soll oder die Zeugen dessen wurden; darunter ein Gang-Mitglied, ein Bodyguard, ein Callboy und eine ehemalige Musikerin aus Diddys Castingshow.

Diejenige, die wohl am längsten unter P. Diddy litt, seine langjährige Freundin Casandra Ventura, kommt nicht zu Wort. Ventura war als Anfang Zwanzigjährige mit dem 17 Jahre älteren Combs zusammengekommen, der ihr eine Karriere als Sängerin versprach. Die Aufnahmen einer Überwachungskamera, die zeigen, wie Combs sie über den Boden eines Hotelflurs schleift und zusammentritt, gingen 2024 viral. Ihre Zivilklage aus dem Jahr 2023, die außergerichtlich beigelegt wurde, gilt in vielen Punkten als Vorlage für die spätere Anklage der New Yorker Staatsanwaltschaft.

„Ich denke, dass Sean in den Tod von 2Pac verwickelt war“

Dafür packt ein alter Geschäftspartner aus, der ebenfalls sehr lange unter Combs gelitten haben will. Kirk Burrowes hatte das einflussreiche Medienunternehmen „Bad Boy Entertainment“ und die dazugehörige Plattenfirma 1993 mit Combs gegründet. Für Regisseurin Alexandria Stapleton fungiert er als eine Art Schlüsselzeuge, und seine Liste der Vorwürfe ist ebenso lang wie schwerwiegend.

Burrowes berichtet, er sei von Combs sexuell missbraucht worden. Zudem habe Combs ihn mit einem Baseballschläger gezwungen, Firmenanteile abzutreten, mit dem Versprechen, diese später zurückzuerhalten, was laut Burrowes jedoch nie geschah. Als er sich schließlich weigerte, den Vertrag des damals bereits getöteten Rappers The Notorious B.I.G. nachträglich zum Nachteil von dessen Familie zu ändern, sei er entlassen worden. Und dann ist da noch die Ermordung von 2Pac. „Heute, wo ich reifer bin, denke ich, dass Sean in den Tod von 2Pac verwickelt war“, sagt Burrowes.

Ebendieser Theorie widmet sich ein großer Teil der zweiten Folge von „The Reckoning“. Der Rapper 2Pac, bürgerlich Tupac Shakur, war 1996 in Las Vegas, kurz nach einem Boxkampf von Mike Tyson, aus einem Auto heraus erschossen worden. Aufnahmen aus einer informellen Vernehmung des hochrangigen Gangmitglieds Duane Davis, genannt „Keffe D“, aus dem Jahr 2008 belasten Combs. Davis zufolge habe Combs ihm Mitte der Neunzigerjahre erklärt, er würde „alles zahlen“, um Tupac und dessen Labelchef Suge Knight „loszuwerden“. Bei einem weiteren Treffen sei Combs noch deutlicher geworden: „Ich muss die Typen loswerden.“ Man habe sich, so Davis, auf eine Belohnung von einer Million Dollar verständigt.

Davis bestätigte den Ermittlern zudem, dass sein Neffe Orlando Anderson die tödlichen Schüsse auf Tupac abgegeben habe. Am Tag darauf, so Davis, habe er Combs informiert, der sich über den Tod des Rappers gefreut habe. Einem anderen Zeugen zufolge habe Combs die Belohnung einem Mittelsmann gegeben, der sie jedoch nie an Davis weitergereicht habe.

Combs spricht von „schändlichem Rufmord“

Die Gerüchte über eine mögliche Verwicklung von Sean Combs in den Mord an Tupac Shakur kursieren seit Jahren in der Hip-Hop-Szene, und auch die damaligen Aussagen von Duane „Keffe D“ Davis gegenüber Ermittlern sind nicht neu. Doch Netflix macht diese Details erstmals einem Millionenpublikum zugänglich. In den ersten Tagen nach der Veröffentlichung stürmte die Dokumentation in zahlreichen Ländern die Streaming-Charts. 2026 soll sich Davis in einem Prozess für den Mord an Tupac Shakur verantworten. Dann dürfte auch Combs als möglicher Auftraggeber ins Visier der Staatsanwälte geraten.

Combs wiederum spricht von „schändlichem Rufmord“. Er wirft Netflix vor, „gestohlenes Material“ zu verwenden. Der Vorwurf bezieht sich auf Aufnahmen, die Combs aus nicht ganz nachvollziehbaren Gründen kurz vor seiner Festnahme am 17. September 2024 selbst in Auftrag gegeben hatte. In den letzten Tagen in Freiheit hatte ihn ein Kameramann auf Schritt und Tritt begleitet. Wohl um nicht den Eindruck zu erwecken, eine Flucht zu erwägen, hatte sich Combs damals nach New York begeben.

Ohne diese Aufnahmen hätte die Dokumentation mit ihren vielen Anklägern leicht konstruiert wirken können. Doch am besten entlarvt sich Combs selbst, wenn er seinen Anwalt anweist, jemanden zu engagieren, der sich mit „Propaganda“ auskennt, um die Stimmung zu seinen Gunsten zu drehen. In einer anderen Szene besucht Combs sein altes Viertel Harlem, wohl um sich als Volksheld zu inszenieren, nur um auf der Rückfahrt in sein Luxushotel angeekelt anzukündigen, nach dem vielen Menschenkontakt ein Bad nehmen zu müssen.

Dokumentation von Erzfeind produziert

Fans von P. Diddy, sofern es sie noch gibt, könnten der Dokumentation dennoch anlasten, die Lebensgeschichte von Sean Combs sehr einseitig erzählt zu haben. Immerhin hat sie sein Erzfeind 50 Cent produziert. Im Jahr 2006 veröffentlichte der ebenfalls aus New York stammende Musiker den Disstrack „The Bomb“, in dem er P. Diddy vorwarf, zu wissen, wer den Rapper The Notorious B.I.G. 1997 erschossen habe. Spätestens seit dieser Veröffentlichung sind die beiden erbitterte Rivalen.

Trotzdem beschleicht einem am Ende der Doku-Reihe das Gefühl: So viele Gesprächspartner können sich in ihrem Urteil über P. Diddy nicht geirrt haben. Sogar die beiden Geschworenen des großen Gerichtsprozesses, die Combs in vielen Anklagepunkten freigesprochen hatten, ändern daran nichts. Es ist ein Scoop, dass Netflix sie vor die Kamera bekommen hat. Ihre Aussagen scheinen – nach all den Leidensberichten der vermutlichen Diddy-Opfer – nur zu bestätigen, wie leicht ein berühmter und reicher Mann das Narrativ zu seinen Gunsten wenden kann. Geschworener Nummer 75, ein Mann mittleren Alters, rechtfertigt das gewalttätige Verhalten Combs gegenüber Casandra Ventura. Sie habe gehen können, sagt er, habe sich aber für ein luxuriöses Leben entschieden. Geschworene 160, eine junge schwarze Frau, schildert, wie sehr Combs‘ Musik ihre Kindheit geprägt hat und wie er im Gerichtssaal versuchte, die Geschworenen mit Blicken auf seine Seite zu ziehen. Ob dies in den kommenden Prozessen gegen den Rapmogul so einfach werden wird?