Auf den ersten Seiten der Nationalen Sicherheitsstrategie formulierte die amerikanischen Regierung ihre Ziele für die Außenpolitik der kommenden Jahre. Punkt drei: Man wolle seine Verbündeten darin unterstützen, die europäische Freiheit und Sicherheit zu bewahren.

So weit, so gut. Das größte Thema zwischen Amerikanern und Europäern ist dieser Tage das Bemühen um ein Ende des Krieges in der Ukraine. Doch schon die zweite Hälfte des Satzes ließ vermuten, dass Washington noch mehr über die Europäer zu sagen hat. Da hieß es, es müsse auch das „Selbstbewusstsein der europäischen Zivilisation“ und dessen „westliche Identität“ wiederhergestellt werden.

Das amerikanische Strategiepapier, das üblicherweise ein Mal in einer Präsidentschaft überarbeitet und veröffentlicht wird, ist Ausweis der „America First“-Politik Trumps. Nach dem Kalten Krieg habe man in Washington gedacht, Amerikas Vorherrschaft über „die ganze Welt“ liege im besten Interesse des Landes, steht dort geschrieben. Die Angelegenheiten anderer Länder gingen die Vereinigten Staaten jedoch nur dann etwas an, wenn ihr Vorgehen die eigenen Interessen „unmittelbar“ bedrohe.

Im Falle Europas kommen die Amerikaner offenbar zu diesem Schluss. Denn was folgt, ist eine Abrechnung, die der europakritischen Rede des Vizepräsidenten J. D. Vance in München im Frühjahr ähnelt.

Steht die europäische Zivilisation vor dem Untergang?

Die europäischen Regierungen würden „demokratische Prozesse untergraben“, heißt es in dem Strategiepapier, ohne konkrete Beispiele zu nennen. Die Liste der Vorwürfe ist lang: Zensur, Unterdrückung der politischen Opposition, ein „Verlust der nationalen Identität“, eine problematische Einwanderungspolitik. Die amerikanische Regierung kommt zu dem Schluss, der Kontinent werde in zwanzig Jahren „nicht mehr wiederzuerkennen“ sein, sollten sich die aktuellen Trends nicht umkehren.

Es bestehe die reale Gefahr „auf den Untergang der Zivilisation“. Bestimmte NATO-Mitglieder würden künftig mehrheitlich „nicht-europäisch“ sein. Deshalb stehe infrage, ob sie ihren Platz künftig immer noch innerhalb des Bündnisses oder an der Seite der Vereinigten Staaten sähen.

Bemerkenswert ist, dass die Vereinigten Staaten ganz im Gegensatz zu den harschen Worten in Richtung Europa an anderer Stelle in dem Dokument schreiben, man hoffe auf gute diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen zu vielen Ländern – „ohne ihnen demokratischen oder anderweitigen gesellschaftlichen Wandel aufzuerlegen“, der sich maßgeblich von den Traditionen des Landes unterschiede.

Die EU reagierte trotz dieser Töne betont zurückhaltend auf die Strategie. Die Sprecherin der EU-Kommission hatte es schon am Freitag abgelehnt, im Detail darauf einzugehen. Immerhin wies Paula Pinto die Darstellung zurück, dass die EU und ihre Institutionen die Freiheiten ihrer Bürger untergrabe.

Für die meisten Akteure dürfte gelten, was der niederländische Außenminister David van Weel am Sonntag sagte: Er sei nicht überrascht, denn „wir wissen, dass diese Regierung so über Europa denkt“. Zensurvorwürfe hatte die Kommission schon nach der Münchner Rede im Februar von Vizepräsident J. D. Vance zurückgewiesen. An einer neuerlichen Auseinandersetzung mit Washington besteht keinerlei Interesse – die Lage in der Ukraine ist schon fragil genug.

So fiel auf, dass selbst die Außenbeauftragte Kaja Kallas, die mit Kritik an der Trump-Regierung sonst nicht spart, am Samstag einen zurückhaltenden Ton anschlug. Die USA seien „immer noch unser größter Verbündeter“, sagte die Estin in Doha. Sie konzedierte sogar, etwas von der amerikanischen Kritik sei auch wahr.

Dagegen jubelte die AfD über die Ankündigung, dass die amerikanische Regierung künftig „patriotische Parteien“ unterstützen wolle. „Das ist eine direkte Anerkennung unserer Arbeit“, sagte der Europaabgeordnete Petr Bystron. „Die AfD hat immer für Souveränität, Remigration und Frieden gekämpft – genau die Prioritäten, die Trump nun umsetzt.“

Erste Trump-Administration sah Russland kritischer

Trumps Strategiepapier entspricht seinem Selbstverständnis als Geschäftsmann. Die Außenpolitik beruhe nicht auf „traditioneller politischer Ideologie“, heißt es, sondern richte sich vor allem nach einer Sache: was gut für Amerika sei.

In Trumps erster „National Security Strategy“ 2017 war noch vom amerikanischen „Engagement für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“ die Rede. Nun heißt es unter anderem, alle Botschafter müssten sich der „wichtigen Geschäftsmöglichkeiten in ihrem Land“ bewusst sein. Es gehöre zu ihren Aufgaben, amerikanischen Unternehmen zum Erfolg zu verhelfen. Dabei geht das Geschäft offenbar vor Politik. Man dürfe auch „Regierungen mit anderen Ansichten“ nicht übersehen, „die mit uns zusammenarbeiten wollen“.

In der ersten Präsidentschaft Trumps hieß es in dem Strategiepapier 2017 noch, Russland versuche, die amerikanische Sicherheit zu untergraben und die Vereinigten Staaten und seine Partner zu entzweien. Es sei zentral, dass man gemeinsam mit den Europäern gegen die Zersetzungsversuche und Aggression aus Moskau vorgehe. Diesmal steht dort, Priorität habe eine „strategische Stabilität mit Russland“. Das Land wird vor allem als Beweis für die Schwäche der Europäer herangezogen. Deren „Mangel an Selbstvertrauen“ zeige sich am deutlichsten in den Beziehungen zu Moskau; es werde „erhebliches diplomatisches Engagement“ der Amerikaner erfordern, um die Beziehung der beiden Länder zu stabilisieren.

Moskau reagierte mit ­Genugtuung. Trumps „entsprechend seiner eigenen Sicht korrigierte Konzeption“, sagte Präsident Wladimir Putins Sprecher, „entspricht in vielem auch unserer Sicht“. Dem Staatsfernsehen sagte Dmitrij Peskow weiter, man dürfe wohl darauf hoffen, dass die Strategie „ein bescheidenes Unterpfand dafür werden kann, dass es gelingt, die gemeinsame Arbeit an der Suche nach einer Friedenslösung zur Ukraine mindestens fortzusetzen“.

Das entspricht der Kreml-Linie, Trump wo immer möglich zu loben und so Putins Maximalforderungen mit Blick auf die Ukraine und eine Neuordnung der Sicherheitsarchitektur in Europa voranzutreiben, ansonsten abzuwiegeln und zu schweigen. So war in den vergangenen Wochen aufgefallen, dass der Kreml Trump dessen aggressive Politik gegenüber den Karibikanrainerstaaten durchgehen ließ, die Washington nun offiziell zu einer „westlichen Hemisphäre“ zählt, in der die USA das Sagen haben sollten.

Zu Trumps Venezuela-Politik sagt der Kreml nichts

Das spiegelt Putins Denken in Einflusssphären, wobei der russische Herrscher darauf hofft, Moskaus Stellung in Europa zu stärken, wo er auf dieselben, im Aufwind befindlichen rechtspopulistischen und rechtsextremen Kräfte vom Schlage der AfD setzt wie Trump. Früher – vor der Invasion der Ukraine von 2022 und vor der seit Beginn dieses Jahres kultivierten Aussicht, mithilfe Trumps auf dem europäischen Schlachtfeld Erfolge zu erzielen – hätten Trumps militärische Drohkulisse gegen das Regime des venezolanischen Präsidenten Nicolás Maduro, einen Verbündeten Moskaus, und die mit Drohungen unterlegte Wahlempfehlung für einen Präsidentschaftskandidaten in Honduras wütende russische Proteste ausgelöst.

So war es noch Anfang 2019, als Moskau die amerikanische Anerkennung des damaligen venezolanischen Oppositionsführers Juan Guaidó als Interimspräsident durch die USA als „Einmischung in die inneren Angelegenheiten“, „zerstörerischen Eingriff von außen“ und groben Völkerrechtsverstoß verurteilte. Demonstrativ schickte man damals Militärflugzeuge mit Ausrüstung und Militärs nach Caracas. Jetzt dagegen kommt aus Moskau ein implizites Plazet für Trumps Politik.

Dass Putins Kalkül aber nicht unbedingt aufgehen muss, zeigt ein Kommentar des amerikanischen Senders Fox News, den Trump am Wochenende über sein Netzwerk Truth Social weiterverbreitete. „Trumps Aggression gegen Venezuela ist eine Warnung an Putin“, ist er überschrieben. „Es ist wichtig zu verstehen, dass Venezuela ein Vasallenstaat Russlands ist, ebenso wie Iran und wie es Syrien bis zum kürzlichen Sturz von Baschar al-Assad war“, heißt es darin. Trump habe bewiesen, dass Putin gegen die Macht Amerikas „seine zwielichtigen Freunde weltweit nicht schützen kann“. Der Gegner in Venezuela sei „nicht wirklich Maduro, es ist Putin, der bald herausfinden könnte, dass ein weiterer seiner Paria-Verbündeten für immer aus dem Spiel ist“.

In dem Strategiepapier steht, Trump nutze „unkonventionelle Diplomatie“, Amerikas militärische Kraft und wirtschaftliche Anreize, um Konflikte zu lösen. Der Ton gegenüber China ist weniger scharf als noch unter seinem Vorgänger Joe Biden, der Peking als die größte außenpolitische Herausforderung für die Vereinigten Staaten bezeichnet hatte. Nun heißt es, man strebe eine „Neugewichtung” der Beziehungen mit China. In Bezug auf Taiwan hebt die Regierung abermals geschäftliche Interessen hervor. Weil ein Drittel des weltweiten Seehandels im Jahr über das Südchinesische Meer gehe und das auch ­erhebliche Auswirkungen auf die amerikanische Wirtschaft habe, sei es „vorrangig, einen Konflikt um Taiwan zu verhindern“. Die Vereinigten Staaten unterstützten „keine einseitige Änderung des Status quo“.

Der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen im BundestragDer CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen im BundestragAFP

Deutsche Außenpolitiker reagierten mit Sorge und dem Aufruf zu europäischer Geschlossenheit auf die neue Sicherheitsstrategie der amerikanischen Regierung. Norbert Röttgen (CDU), für die Außenpolitik zuständiger stellvertretender Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag, sprach von einer „zweiten Zeitenwende für Europa“, die das Dokument bedeute. Es handele sich um eine grundlegend neue geopolitische Positionierung der Vereinigten Staaten im Verhältnis zu Europa, China und Russland, sagte Röttgen der F.A.Z. „Die Strategie wendet sich gegen die europäischen Demokratien, deren innere Verfassung durch die amerikanische Außenpolitik aktiv verändert werden soll.“

Deutsche Außenpolitiker dringen auf geeinteres Europa

Ein „ausdrückliches Instrument dieser Einmischung der USA“ in die inneren Angelegenheiten der europäischen Staaten sei die gezielte Kooperation mit den inneren Feinden der ­liberalen Demokratien in Gestalt der rechtsextremen Parteien, äußerte der CDU-Bundestagsabgeordnete. Das außenpolitische Ziel Washingtons sei die „umfassende Dominanz in der westlichen Hemisphäre“. Die europäische Souveränität sei nun von Russland durch Krieg angegriffen und von Amerika durch den Anspruch der Einmischung im Innern nach ideologischen Vorgaben unter Druck gesetzt. Das sei der „Ernstfall“ der europäischen Verteidigung der Demokratie.

Röttgen dringt, ebenso wie die Grünen-Außenpolitikerin und stellvertretende Fraktionsvorsitzende Agnieszka Brugger, darauf, dass die Europäer sich am 18. Dezember in Brüssel darauf einigten, die eingefrorenen russischen Staatsgelder (Frozen Assets) zu nutzen. Mit diesen soll der Ukraine in ihrem Kampf gegen Russland geholfen werden. So würden die Europäer den Willen zeigen und die Mittel erhalten, sich zu behaupten, sagte Röttgen der F.A.Z. „Wenn das nicht gelingt, werden die Folgen verheerend sein.“

Ähnlich argumentiert Brugger. Sie sagte, es stelle sich „nicht nur, aber besonders bei den Frozen Assets die Frage, ob Europa sich in dieser rauen Welt, in der die Karten gerade neu gemischt werden, behaupten kann oder ob es gnadenlos untergeht“. Wenn der Wille da wäre, könnte Europa „Player statt Spielball“ sein. „Wir wollen ein starkes transatlantisches Band mit den USA und unseren wichtigsten Partner an unserer Seite, aber wenn die Trump-Administration das nicht will, müssen wir der Realität leider ins Auge blicken und endlich entschlossen handeln.“

Der außenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Jürgen Hardt (CDU), zeigte sich etwas optimistischer. „Deutschland und Europa spielen in der Strategie des US-Präsidenten weiterhin eine zentrale Rolle als Partner“, sagte er der F.A.Z. „Somit ist die Strategie kein Abgesang, sondern kann vielmehr Anknüpfungspunkt für verstärkte Bemühungen um transatlantische Zusammenarbeit sein.“ Hardt fügte hinzu: „Dass wir selbst mehr für die Verteidigung Europas tun müssen, ist eine Binsenweisheit, dass unsere Abhängigkeit von China zu groß ist, auch. An beidem arbeiten wir, das wird in den USA noch nicht ausreichend gesehen.“