Als richtig besinnlich dürfte Ulf Kristersson die Adventszeit wohl kaum empfinden. Seit Wochen steht Schwedens Regierungschef innenpolitisch unter Druck: Sein regierendes Dreierbündnis steht Umfragen zufolge vor dem Aus, beide Juniorpartner würden es aktuell entweder gar nicht erst ins Parlament oder nur knapp über die Vier-Prozent-Hürde schaffen.

Knapp zehn Monate vor der Wahl wird das für Kristersson immer mehr zum Problem – wohl deshalb versucht der heute 61-Jährige, sich besonders bei einem Thema tatkräftig zu zeigen.

Als er vor mehr als drei Jahren fürs höchste Regierungsamt angetreten ist, versprach der spätere Ministerpräsident, Schweden endlich wieder „in Ordnung“ zu bringen und die im Land seit Jahren wachsende, oft tödliche Bandengewalt mit scharfen Gesetzen einzudämmen. Seine harte „Law-and-Order“-Politik kam bei den Wähler:innen an und sicherte dem konservativen Parteichef das Regierungsamt.

Zahl der Schießereien gesunken

Heute ist Kristerssons Botschaft eine andere: „Schweden ist auf dem richtigen Weg“ prangt auf dem blauen Reisebus, mit dem der Ministerpräsident seit einigen Wochen immer wieder durchs Land fährt.

Der 61-Jährige kann auch einige Erfolgsmeldungen auf seiner begonnenen Wahlkampftour verkünden: Die Zahl der Schießereien ist im vergangenen Jahr im Vergleich zu seinem Amtsantritt gesunken, immer häufiger verkündet die Polizei die Festnahme seit Langem gesuchter Bandenchefs.

„Die schwedischen Behörden haben ihre Fähigkeiten und ihre Zusammenarbeit mit anderen Ländern ausgebaut“, sagte der Kriminologe Manne Gerell dem Tagesspiegel bereits im Oktober.

Kristersson spielt das in die Hände. „Die Regierung unternimmt nun alles in ihrer Macht Stehende, um der tödlichen Gewalt ein Ende zu setzen“, sagte er bei einer Veranstaltung im Mai in Uppsala. Die Regierung sei bereits weit gekommen, jetzt „drängen wir auf neue Gesetze“.

Eine ganze Reihe davon stellte Kristersson gemeinsam mit dem Justizminister in den vergangenen Jahren vor, ein weiteres wird derzeit in Stockholm diskutiert.

Eine Untersuchungskommission sollte eine mögliche Gesetzesverschärfung für mutmaßlich kriminelle Ausländer mit Kontakten ins Bandenmilieu überprüfen und stellte die Ergebnisse in dieser Woche in einem knapp 900 Seiten langen Bericht vor.

„Generell lässt sich sagen, dass die Regeln, deren Einführung nun vorgeschlagen wurde, bereits gelten – allerdings nur mit Bezug auf Terrorismus-Verdacht“, sagt Simon Andersson dem Tagesspiegel. An der Universität Stockholm forscht der Rechtswissenschaftler unter anderem zum Migrationsrecht. „Nach derzeitiger Rechtslage ist es bereits möglich, Personen aufgrund des Verdachts auszuweisen, dass sie Terrorismus fördern, indem sie für eine Terrororganisation tätig sind.“

Zehn-Punkte-Plan gegen Banden

Die drei Expertinnen der Untersuchungskommission schlagen vor, ähnliche Regeln auch für Ausländer:innen einzuführen, die ein kriminelles Netzwerk fördern.

Mit einem solchen Gesetz würde Kristersson ein langjähriges Versprechen einlösen: Bereits als Oppositionspolitiker stellte er 2020 einen „Zehn-Punkte-Plan“ gegen Bandenkriminalität vor. Zentraler Punkt war bereits damals die Abschiebung ausländischer Staatsbürger:innen, die nachweisliche Verbindungen zur organisierten Kriminalität hätten – noch ehe sie eine Straftat begehen. Somit wäre kein Gerichtsurteil notwendig.

Generell lässt sich sagen, dass die Regeln, deren Einführung nun vorgeschlagen wurde, bereits gelten.

Simon Andersson, Universität Stockholm

Mit der rechtsstaatlichen Unschuldsvermutung ist das dem Migrationsrechtler Andersson zufolge vereinbar. „Niemand darf zwar für eine Straftat bestraft werden, ehe seine Schuld bewiesen ist. Eine Abschiebung oder Ausweisung ist aber keine Strafe für ein Verbrechen.“ Die Unschuldsvermutung sei daher hier nicht anwendbar.

Dennoch schränkt Andersson den Handlungsspielraum ein: „Wenn eine Person Gefahr läuft, mit der Todesstrafe oder Folter konfrontiert zu werden, darf sie niemals ausgewiesen werden – unabhängig davon, ob sie einem kriminellen Netzwerk zugerechnet wird oder nicht.“ Für Geflüchtete und EU-Bürger:innen gelten andere Regelungen bei Abschiebungen.

Richtig viel ändern würde sich mit den vorgeschlagenen Gesetzesänderungen also nicht.

Doch das hält die Regierung nicht davon ab, auf einem anderen, ebenfalls heftig umstrittenen Gebiet tätig zu werden. Am Donnerstag stellte Migrationsminister Johan Forssell in Stockholm einen Gesetzesentwurf vor, um die Bleiberegeln für ausländische Staatsbürger:innen zu verschärfen – allerdings nur, wenn sie bereits für Straftaten verurteilt worden sind.

Skandal um Migrationsminister In Schwedens Regierung zeigen sich erneut blinde Flecken nach Rechtsaußen

Demzufolge sollen sie unter anderem grundsätzlich keine Aufenthaltsgenehmigung mehr bekommen und sich regelmäßig bei den Behörden melden müssen. „Die Zeit des Verhätschelns ist nun endgültig vorbei“, sagte Forssell bei der Pressekonferenz. Medienberichten zufolge wären davon allerdings jährlich nur etwa 200 Personen betroffen.

Am Freitag wurde zudem bekannt, dass die Regierung mehrere Verfassungsänderungen vornehmen lassen will. Personen mit doppelter Staatsbürgerschaft, die sich „gesellschaftsschädigenden Aktivitäten“ verschrieben hätten, soll dem Gesetzesvorschlag zufolge die schwedische Staatsbürgerschaft entzogen werden können.

„Schweden ist auf dem richtigen Weg“, sagt Ulf Kristersson.

© Imago/TT/Björn Larsson Rosvall

Betreffen würde das unter anderem Bandenchefs, die wegen schwerer Straftaten verurteilt worden sind. Derzeit ist ein Entzug der schwedischen Staatsbürgerschaft unter keinen Umständen möglich. Zukünftig soll zudem auch die Beteiligung an einer kriminellen Bande unter Strafe gestellt werden.

Regierungschef Kristersson scheint in der Migration seit Langem die Wurzel der ausufernden Bandengewalt zu sehen. „Wir haben eine globalisierte Kriminalität, die stark mit Einwanderung zusammenhängt“, sagte er im Februar in einem Interview mit dem Fernsehsender TV4. „Wenn ständig neue Menschen einreisen, die neue Straftaten begehen, haben wir keine Chance, das Problem in den Griff zu bekommen.“

Nur zeichnen die offiziellen Zahlen ein ganz anderes Bild: Dem aktuellen Lagebericht der schwedischen Polizei zur Bandenkriminalität zufolge sind über 80 Prozent der mehr als 17.000 aktiven Clanmitglieder Schweden und Schwedinnen, lediglich etwas mehr als ein Zehntel hat nicht die schwedische Staatsbürgerschaft – und könnte somit überhaupt des Landes verwiesen werden.

Das wäre das Abwälzen eigener gesellschaftlicher Probleme auf andere, um das nationale Selbstbild zu schützen.

Hannah Wikström, Universität Göteborg

Ähnlich sieht es bei den geschätzt Zehntausenden Menschen aus, die laut Polizeiangaben Verbindungen ins kriminelle Milieu haben sollen.

Sinkendes Interesse bei den Wählern

„Die Verknüpfung von Straftaten und Migration ist bereits in ihrem Ansatz von einem autoritär-rassistischen Denken geprägt“, sagt Hannah Wikström, die an der Universität Göteborg unter anderem zu Rassismus forscht.

Eigene gesellschaftliche Probleme werden auf andere Gruppen „abgewälzt“, sagt sie. „Um das nationale Selbstbild zu schützen. Die Logik dahinter soll sein: Das ,Problem’ der Kriminalität werde gewissermaßen importiert, aber das ist falsch. Es ist eine populistische Erzählung.“

61

Prozent der Schwedinnen und Schweden finden, dass das Gesundheitssystem das wichtigste politische Thema der Wahl 2026 ist.

Auch bei den mehr als zehn Millionen Schwedinnen und Schweden scheint das immer weniger anzukommen.

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Weniger als ein Jahr vor der Wahl verliert das Thema Sicherheit und Ordnung Umfragen zufolge weiter an Bedeutung, nicht einmal die Hälfte der Wähler:innen hält es für entscheidend. Zudem wird Kristerssons Konservativen seit dem Sommer nicht mehr die höchste Kompetenz zugesprochen.

Im Oktober erreichte seine Partei in einer Umfrage des öffentlich-rechtlichen Rundfunks SVT und des Meinungsforschungsinstituts Verian nur noch 17,9 Prozent Zustimmung. So schlecht stand es um die Partei elf Monate vor einer Wahl zuletzt vor fast 50 Jahren.