Man habe sich „sehr konstruktiv ausgetauscht“ – mit dieser diplomatischen Leerformel beschrieben sowohl Friedrich Merz als auch Ursula von der Leyen ihr gemeinsames Abendessen mit dem belgischen Ministerpräsidenten Bart De Wever. Rund zwei Stunden hatten der Bundeskanzler und die Präsidentin der EU-Kommission am Freitagabend mit ihrem Gastgeber in dessen Brüsseler Residenz gespeist.

Auf einen Durchbruch im Streit über ein Reparationsdarlehen für Kiew deutet das nicht hin, allerdings auch nicht auf eine weitere Eskalation. Man sei sich darüber einig gewesen, dass angesichts der geopolitischen Lage die Zeit dränge, und werde den Austausch fortsetzen, um beim Europäischen Rat am 18. Dezember eine einvernehmliche Lösung zu finden, ließen Merz und von der Leyen wissen, wörtlich abgestimmt. De Wever selbst hüllte sich in Schweigen.

Lediglich ein ungelenker Satz in Merz’ Kommuniqué deutete einen der bleibenden Konflikte an: „Die besondere Betroffenheit Belgiens in der Frage einer Nutzbarmachung der eingefrorenen russischen Vermögenswerte ist unbestreitbar und muss in jeder denkbaren Lösung so adressiert werden, dass alle europäischen Staaten dasselbe Risiko tragen.“

Was, wenn das Geld zurückbezahlt werden müsste?

Zwar hatte die EU-Kommission eine solche Risikoteilung in ihre Gesetzesvorschläge eingebaut, die sie vorige Woche präsentierte. Demnach haftet jeder Mitgliedstaat gemäß seinem Anteil an der Wirtschaftsleistung der Union für das Darlehen, das der Ukraine unter Heranziehung der immobilisierten Vermögenswerte der russischen Zentralbank gewährt werden soll. Dabei geht es um bis zu 210 Milliarden Euro, von denen 185 Milliarden Euro beim belgischen Vermögensverwalter Euroclear liegen. Falls ein Staat nicht zahlen kann, will die Kommission ihm das Geld leihen, um die Liquidität sicherzustellen.

Doch stellt De Wever weiterhin den Willen der anderen Mitgliedstaaten infrage, tatsächlich für das Darlehen einzuspringen, wenn das Geld plötzlich an Russland zurückbezahlt werden müsste. Vor einer Woche beschrieb er das bei einem launigen Auftritt so: Bisher habe sich nur ein Land zu einer solchen Garantie bereit erklärt, nämlich Deutschland. Wenn er auf seine Kollegen aus den anderen Mitgliedstaaten einrede, „dann blicken die auf ihre Schuhe“.

Freilich verlangt De Wever etwas, das er so gar nicht bekommen kann. Nämlich schriftliche Garantiezusagen bis zum Tag der Entscheidung. Auch der Bundeskanzler kann nicht einfach mal einen zweistelligen Milliardenbetrag zusagen. Deutschland müsste für ein Viertel der Darlehenssumme aufkommen, dafür bedarf es aber einer Zustimmung des Bundestags. So ist es in nahezu allen EU-Staaten. Hier muss also erst noch eine Form der Verbindlichkeit gefunden werden, die alle Partner mittragen können.

Ein weiterer Konflikt betrifft die Höhe der Garantien. Die Kommission schlägt für eine Darlehenssumme von 90 Milliarden Euro – der Betrag, den Kiew in den nächsten zwei Jahren insgesamt bekommen soll – eine Deckung von 105 Milliarden Euro vor. Damit geht sie auf die belgische Besorgnis ein, dass Russland nicht nur den herangezogenen Betrag zurückfordern, sondern zusätzlich Strafgebühren in Rechnung stellen könnte.

De Wever: Mindestvoraussetzungen noch nicht erfüllt

Allerdings will De Wever auch belgische Privatleute und Unternehmen entschädigen, wenn die von Russland enteignet werden. Das lehnten die Partner aber schon bei ihren Beratungen im Oktober ab, Merz eingeschlossen. Wer heute noch Geschäfte in Russland mache, so ihr Argument, sei auf eigenes Risiko tätig. Eine Ausnahme ist Euroclear selbst: Das Unternehmen hat rund 17 Milliarden Euro in Russland angelegt und soll etwaige Ent­eignungen mit den immobilisierten Vermögenswerten verrechnen dürfen.

In einer ersten Reaktion auf die Vorschläge der Kommission hatte die belgische Regierung diese am Mittwoch brüsk zurückgewiesen. Als De Wever einen Tag später im belgischen Parlament sprach, äußerte er sich jedoch schon moderater. Die Vorschläge gingen in die richtige Richtung, sagte er, würden aber noch nicht die „Mindestvoraussetzungen“ erfüllen. Der flämische Konservative relativierte auch seine vorherige Äußerung, dass eine rasche Entscheidung über die russischen Vermögenswerte ein Friedensabkommen gefährden werde.

Das hatte so geklungen, als rede De Wever den USA und Russland das Wort, die dieses Geld gemäß dem 28-Punkte-Plan für den Wiederaufbau und gemeinsame Projekte verwenden wollen – nicht für die militärische Stärkung der Ukraine. Nun will er nur noch so verstanden werden, dass ein Friedensvertrag die Freigabe der immobilisierten Vermögen vorschreiben könne – weshalb die Summe jederzeit über Garantien abrufbar bleiben müsse. Diese Entschärfung ist bedeutsam, weil es hier um den politischen Kern geht: Steht Belgien noch auf der Seite der EU oder nicht?

Auch die Euroclear-Chefin warnt vor einem Darlehen

Grundsätzlich könnten die Mitgliedstaaten ein Reparationsdarlehen auch ohne belgische Zustimmung beschließen. Die Kommission stützt ihr Rechtskon­strukt auf einen Notstandsartikel in den EU-Verträgen, der auch schon für den Corona-Wiederaufbaufonds aktiviert worden war. Da der Rat in diesem Fall stets auf Vorschlag der Kommission entscheidet, reicht eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedstaaten aus. Deshalb können auch Ungarn und die Slowakei überstimmt werden, die es grundsätzlich ablehnen, den Krieg in der Ukraine mit weiteren Zahlungen zu „verlängern“.

Allerdings ist das im Fall Belgiens komplizierter. Daran erinnerte am Freitag die Chefin von Euroclear Valérie Urbain in einem Interview mit dem flämischen Sender VRT. „Wir sind ein europäisches Unternehmen, unsere Aufsichtsbehörde ist das belgische Finanzministerium: Nur dieses kann uns anweisen, diese russischen Gelder freizugeben“, sagte Urbain, die, ganz auf De Wevers Linie, vor den Gefahren eines Reparationsdarlehens warnt. Sollte die belgische Regierung also überstimmt werden, sich aber weigern, den Beschluss auszuführen, käme ein Reparationsdarlehen wohl nicht zustande.

Die EU wird deshalb weiter auf De Wever einwirken müssen, um ihn an Bord zu holen. Immerhin darf sie nach dem Krisen-Dinner in Brüssel darauf setzen, dass sich belgische Vertreter nun „konstruktiv“ an den Verhandlungen auf nachgeordneter Ebene beteiligen.