Im Prozess um den Unfalltod eines Motorradpolizisten bei der EM 2024 ist das Urteil gefällt. Die verurteilte Autofahrerin äußert sich am letzten Prozesstag mit einer Erklärung.

Wenige Tage nach ihrem 71. Geburtstag und vor dem Urteilsspruch am Montag hat sich die Autofahrerin erstmals mit einer Erklärung zu dem Vorwurf geäußert – und jegliche Schuld am Unfalltod eines 61-jährigen Motorradpolizisten bei dem Polizeikonvoi für den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán bei der Fußball-EM 2024 zurückgewiesen.

„Ich bin der festen Überzeugung, keinen Fehler begangen und mich regelkonform verhalten zu haben“, sagte sie am fünften Verhandlungstag im Stuttgarter Amtsgericht. Sie fühle sich ebenfalls als Opfer, „und trotzdem soll mir alleine die Verantwortung aufgebürdet werden“, so die 71-Jährige. Das Amtsgericht verurteilte sie am Montag wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung zu einer Haftstrafe von einem Jahr und drei Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Unfalltag sei für die 71-Jährige „unbegreiflich“

In einem halbstündigen Vortrag berichtete die Angeklagte von der Pflege ihrer Mutter, ihrer Schwiegermutter und ihres Ehemannes, alle vor Jahren verstorben, und daher wisse sie, was es bedeute, liebe nahe stehende Menschen zu verlieren. „Ich habe Respekt vor der Trauer und dem Leid der Angehörigen“, erklärte sie. Der Unfalltag sei für sie „bis heute unbegreiflich“. Sie schilderte, wie sie den Unfall ganz anders erlebt habe. „Es war keine Absperrung da“, sagte sie. Alle, die „keine Polizeizeugen“ gewesen seien, hätten sie entlastet. Der Amtsrichterin Dettling warf sie vor, sie „ungerecht behandelt“ und „geängstigt“ zu haben. „Ich empfinde das als seelische Grausamkeit“, so die 71-Jährige. Sie sei unschuldig.

Der Unfall hatte sich am 24. Juni 2024 um 11.18 Uhr in Degerloch abgespielt, als ein Polizeimotorradkonvoi den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán bei der Fußball-EM von einem Hotel am Pragsattel zum Stuttgarter Flughafen begleiten sollte. Laut Anklage und den Angaben eines Sachverständigen soll eine 69-jährige BMW-Fahrerin aus der Rubensstraße auf die B 27 eingefahren sein, obwohl ein 27-jähriger Polizist den Verkehr gesperrt haben soll – unter anderem mit seinem auf der Kreuzung stehenden Polizeimotorrad, Blaulicht und Handzeichen. Dabei kam es zur Kollision mit dem Polizeimotorrad eines 61-Jährigen. Dieser erlitt tödliche, sein jüngerer Kollege schwere Verletzungen.

Die Verteidigung der 71-Jährigen warf diesem Beamten und der Polizei indes vor, sie hätten zum Unfall „nicht weniger beigetragen als die Angeklagte“. Die Kreuzung sei mit einem Beamten nicht ausreichend gesichert gewesen und eine Absperrung auch von anderen Zeugen in den hinteren Reihen der Warteschlangen als nicht erkennbar bezeichnet worden. Einen verkehrsregelnden Polizisten habe die Angeklagte nicht erkennen können, weil sie beim Linksabbiegen nach links geschaut habe.

So soll sich der Unfall am 24. Juni 2024 abgespielt haben. Die Autofahrerin will keine Polizeisperrung gesehen haben. Foto: STZN/Yann Lange

Der Sachverständige dagegen hatte festgestellt, die BMW-Fahrerin habe nach dem Ausscheren aus der Warteschlange in der Rubensstraße auf die linke Linksabbiegespur mindestens fünf Sekunden und 35 Meter freie Sicht auf das verkehrsregelnde Polizeimotorrad gehabt, das mit Blaulicht in der Fahrbahnmitte der B 27 aufgestellt gewesen sei. Ab der zurückgesetzten Haltelinie in der Rubensstraße sei der „komplette Kreuzungsbereich erkennbar“ gewesen. Die Frau sei mit 26 km/h in die Kreuzung gefahren, als sie mit dem von links kommenden nächsten Polizeimotorrad kollidierte.

Die Staatsanwaltschaft forderte am Montag in ihrem Plädoyer eine Haftstrafe von einem Jahr und sechs Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt werden könne. Es habe sich um kein Augenblicksversagen, sondern um einen groben Verkehrsverstoß gehandelt, die Angeklagte sei bis heute uneinsichtig. Es sei nachgewiesen, dass das zur Absperrung mit Blaulicht eingesetzte Motorrad auf der Kreuzung „sogar noch auf ihrem Fahrweg stand, sie musste sogar nach links ausweichen, um nicht mit diesem zusammenzustoßen“, so die Staatsanwältin.

Für Hinterbliebene „unerträgliche Respektlosigkeit“

Die Nebenklägervertreter der Witwe des 61-Jährigen Motorradpolizisten sowie dessen schwer verletzten heute 29-jährigen Kollegen warfen der Angeklagten besondere Rücksichtslosigkeit und Egoismus vor. Für die Witwe und ihren neunjährigen Sohn sei es kaum auszuhalten, dass sie bis zum fünften Verhandlungstag weder Anteilnahme oder Reue der Angeklagten erfahren hätten, die Respektlosigkeit sei unerträglich. Die Nebenklage hätte zwei Jahre Haft auf Bewährung für tat- und schuldangemessen gehalten.

Der Prozessauftakt am 5. November. Foto: Christoph Schmidt

Die beiden Pflichtverteidiger zeigten sich überzeugt, dass ihre Mandantin den Unfall nicht verursacht habe. Ihr erster Wahlverteidiger, dem die Nebenklage Polemik, Arroganz und Rechtsmissbrauch vorwarf, erklärte, dass man es sich sehr leicht mache, eine ältere Dame zur alleinig Schuldigen zu stempeln. Er zeigte Szenarien auf, wie der Unfall auch anders hätte verlaufen können und womöglich der getötete Polizist selbst auf der Anklagebank gelandet wäre. „Meine Mandantin hatte Glück, weil sie überlebt hat“, sagte er. Das Motorrad hätte auch gegen ihre Fahrertür prallen können. Die Polizei sei aufgefordert, ihre Vorgehensweise bei solchen Eskorten generell zu überdenken. Für die 71-Jährige sei allenfalls eine Geldstrafe über 70 Tagessätze angemessen.

Richterin an die Angeklagte: „Sie sind kein Opfer“

Für Amtsrichterin Dettling war entscheidend, dass das Polizeimotorrad des zweiten, später schwer verletzten Beamten mit Blaulicht mitten auf der Kreuzung stand. „Entweder wollten Sie absichtlich daran vorbeifahren oder Sie haben fünf Sekunden lang nicht geradeaus geschaut“, so die Richterin an die 71-Jährige. Sie hätte sich allenfalls mit Schrittgeschwindigkeit der Kreuzung nähern dürfen – sei aber mit 26 km/h unterwegs gewesen. Ab der Haltelinie hätte sie nicht nur das zur Sperrung eingesetzte Motorrad, sondern auch den dazugehörigen Polizeibeamten auf der ansonsten leeren Kreuzung sehen müssen.

Die Autofahrerin will keinen Polizisten auf der Kreuzung B 27/Rubensstraße gesehen haben. Laut Gericht war ein zur Sperrung eingesetztes Motorrad (Vordergrund) aber erkennbar. Auf diesen Angaben beruht die grafische Darstellung. Foto: Julian Rettig/Wolf-Dieter Obst

Den Vorwurf einer mangelhaften Sicherung durch die Polizei mochte Richterin Dettling nicht nachvollziehen: „Man hätte natürlich mehr absperren können, die Frage ist aber, ob alles ausreichend war.“ Aus den Vernehmungen habe sich ergeben, dass die Maßnahme an dieser Stelle ausgereicht habe. „Sie sind kein Opfer“, hielt die Richterin der Angeklagten entgegen, „sondern sie machen sich zu einem.“ Zum Strafmaß gehört noch eine Geldauflage mit einer Zahlung von je 2500 Euro an die Witwe und den verletzten Beamten. Die Bewährungszeit beträgt zwei Jahre. Ob die Verteidigung Rechtsmittel einlegt, darüber äußerte sie sich zunächst nicht.

Heftige Vorwürfe gegen die Amtsrichterin

Dass sie sich in diesem Verfahren ungerecht behandelt fühlt, hatte die Angeklagte bereits am Ende des dritten Verhandlungstages Mitte November lautstark deutlich gemacht: „Im Gericht wird Recht gesprochen, ich zweifle daran“, hatte sie gerufen. Sie fühle sich im Stich gelassen, benachteiligt, bedroht und habe eine Heidenangst. Am Ende diese dritten Verhandlungstages war sie unversehens aus dem Sitzungssaal: „Ich muss hier raus, sonst kotze ich die Bude voll.“

Die Verteidigung warf der Amtsrichterin im Anschluss per Pressemitteilung wiederholte „richterliche List“ vor, die Amtsrichterin sei bereit, „sich das Recht zurechtzubiegen“. Der vierte Verhandlungstag Ende November wurde zu einem kurzen Termin mit einem kurzfristig beigeordneten Pflichtverteidiger. Der Wahlverteidiger hatte sich krank gemeldet und der zweite Wahlverteidiger sein Mandat niedergelegt – und die Angeklagte war erst gar nicht erschienen.