Der Rentenstreit schien gerade erst beigelegt – da taucht schon die nächste Reformidee auf, und zwar dieses Mal mit einer ganz grundlegenden Frage: Ist das klassische System, das den Renteneintritt an das Geburtsjahr koppelt, noch zeitgemäß? Denn bislang entscheidet vor allem das Alter, wann jemand in den Ruhestand gehen kann. Doch nun rückt eine andere Idee in den Fokus: Künftig könnte die Dauer der Beitragszahlungen entscheidend dafür sein. Am Sonntag zeigte sich Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) in der ARD offen einem solchen Vorschlag gegenüber. „Grundsätzlich finde ich dieses System spannend und auch gerechter“, sagte sie im „Bericht aus Berlin“.

Auch der Ökonom Jens Südekum, Professor für Volkswirtschaftslehre und Berater von Finanzminister Lars Klingbeil (SPD), äußerte sich zu dem Modell. „Die Lebensarbeitszeit ist eine Stellschraube, an die wir ranmüssen, um die gesetzliche Rente zu sichern“, sagte er der „Bild am Sonntag“. Eine starre Altersgrenze wie die „Rente für alle mit 70“ sei falsch. Vielmehr sei es besser, „den Renteneintritt nicht an eine starre Alterszahl zu koppeln, sondern an eine Mindestanzahl von Beitragsjahren.“

Unabhängig von der genauen Ausgestaltung des Rentensystems brauche es eine große Rentenreform in jedem Fall. „Die Babyboomer fangen erst jetzt an, in Rente zu gehen. Heißt: Die große finanzielle Belastung für die gesetzliche Rente kommt erst noch“, betonte Südekum. Vor diesem Hintergrund sei es möglicherweise gerechter, auf die tatsächliche Lebensarbeitszeit zu schauen.  

Rente in Deutschland: Welches Rentenalter bisher gilt

Denn: Heute richtet sich der Renteneintritt in Deutschland vor allem nach dem Alter, wobei die Regeln je nach Geburtsjahrgang gestaffelt sind. Bis 2031 steigt das reguläre Rentenalter schrittweise auf 67 Jahre. Wer 45 Beitragsjahre nachweisen kann, darf zwar früher in Rente gehen, doch auch hier spielt das Geburtsjahr eine Rolle: Für Versicherte, die nach dem 1. Januar 1953 geboren wurden, wird das Mindestalter für diese „45-Jahre-Rente“ stufenweise angehoben, pro Jahrgang um zwei Monate. Wer nach 1964 geboren wurde, kann also selbst nach 45 Beitragsjahren erst mit 65 Jahren abschlagsfrei in Rente gehen.

Die Folge: Unterschiedliche Erwerbsbiografien werden bei der Berechnung kaum berücksichtigt. Ein Handwerker, der bereits mit 16 ins Berufsleben einsteigt, und eine Juristin, die erst studiert und dann mit Ende 20 Beiträge zahlt, gehen heute oft gleichzeitig in Rente – obwohl der Handwerker deutlich länger eingezahlt hat. Genau hier setzt das Beitragsjahre-Modell an: Es würde die tatsächliche Lebensarbeitszeit stärker berücksichtigen. „Ich kann dem viel abgewinnen, weil es insofern gerechter ist: Wer früh einzahlt, kann dann auch früher gehen, und die, die erst später einzahlen, wissen, dass sie dann länger arbeiten müssen“, erklärte Bas.

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Carsten Linnemann: „Rentenkommission muss ohne Denkverbote“ arbeiten

Die Rentenkommission, die noch vor Weihnachten ihre Arbeit aufnehmen soll, werde Bas zufolge beide Ansätze diskutieren: den Renteneintritt nach Lebenserwartung und nach Beitragsjahren. Sollte das Modell nach Beitragsjahren favorisiert werden, müssen allerdings noch einige Fragen geklärt werden: Wie werden Kindererziehung, Pflege oder Krankheit angerechnet? Wie sollen Teilzeitjobs und besonders belastende Berufe berücksichtigt werden? Bis Mitte 2026 sollen die Vorschläge der Rentenkommission vorliegen und in ein Gesetzgebungsverfahren eingebracht werden.  

Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion

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Dass die Rentenkommission für verschiedene Vorschläge offen sein sollte, betont auch CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann: „Die Rentenkommission muss jetzt ohne Denkverbote und Vorfestlegungen arbeiten, ansonsten macht es keinen Sinn, sie einzurichten“, sagt er dieser Redaktion. „Die Überlegung, das Renteneintrittsalter an die Zahl der Beitragsjahre zu koppeln, gehört da sicherlich dazu.“

Wie die Rente in anderen EU-Ländern geregelt ist

Ein Blick über die Grenzen zeigt: Die Idee ist nicht vollkommen neu. Frankreich etwa verknüpft im Allgemeinen die abschlagsfreie Rente mit der Zahl der Beitragsjahre. Derzeit gilt dort ein Mindestalter von 62 Jahren für die abschlagsfreie Rente. Wer die volle Rente erhalten möchte, muss zusätzlich 42 Beitragsjahre nachweisen. Nach der Rentenreform von 2023 sollte das Mindestalter schrittweise auf 64 Jahre steigen, und ab 2027 wären 43 Beitragsjahre für die volle Rente erforderlich gewesen. Deren Umsetzung ist nun jedoch ausgesetzt: Premierminister Sébastien Lecornu kündigte nach Protesten im Oktober 2025 an, die Anhebung des Rentenalters und die Verlängerung der Versicherungszeit bis zur Präsidentschaftswahl 2027 auszusetzen, um die politische Stabilität der Regierung zu sichern.

Auch Schweden orientiert sich stärker an der tatsächlichen Lebensarbeitszeit als an einem festen Rentenalter. Die staatliche Rente kann dort flexibel ab 63 Jahren bezogen werden, die Höhe richtet sich nach eingezahlten Beiträgen und Verdienst über das ganze Arbeitsleben. Beitragslücken, etwa durch Ausbildung oder Arbeitslosigkeit, reduzieren die Ansprüche. Zusätzlich gibt es eine kapitalgedeckte Vorsorge, in die ein Teil der Beiträge fließt, sowie private freiwillige Altersvorsorge.

In Irland hängt der Rentenanspruch ebenfalls von der tatsächlichen Beitragsdauer ab. Für einen Anspruch auf die staatliche beitragsfinanzierte Rente sind neben einem Alter von 66 Jahren mindestens 520 eingezahlte Sozialversicherungsbeiträge erforderlich, was etwa zehn Versicherungsjahren entspricht. Eine volle Rente gibt es erst bei rund 2080 Beiträgen, also ungefähr 40 Jahren. Wer weniger eingezahlt hat, erhält eine gestufte, entsprechend niedrigere Leistung. Für Deutschland bedeutet das: Ein Modell, das die Lebensarbeitszeit stärker berücksichtigt, wäre kein Alleingang.