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Schiffe, die westliche Behörden zu Putins Schattenflotte zählen, manipulieren weltweit ihre Positionsdaten doppelt so häufig wie vor dem Angriffskrieg. Das zeigt ein Datenprojekt von NDR, WDR, SZ und internationalen Partnern.
Von Alice Pesavento, Katharina Bews, Benedikt Strunz, Antonius Kempmann, Tamara Anthony, NDR und Laura Weigele, WDR
Offenbar voll beladen fährt der riesige Öltanker „Rangler“ im September über die Ostsee, auch durch deutsche Küstengewässer. Doch das Ortungssystem des Schiffes setzt während der Fahrt immer wieder aus. Insgesamt verschwindet die „Rangler“ fast 22 Stunden lang und funkt seine Position auch nicht an die umliegenden Schiffe. Das zeigen Schiffstracking-Datenbanken.
Ob es sich um ein absichtliches Ausschalten handelt oder um einen Defekt des von der EU sanktionierten, 24 Jahre alten Tankers, ist unklar. Sicher ist jedoch: Solche Ausfälle stellen eine Gefahr für die Schifffahrt dar. Und immer öfter funken dubiose Schiffe nicht mehr ihre Signale.
Eine Auswertung von Daten durch NDR,WDR, SZ und internationale Partner zeigt, dass die Ausfälle bei der Ortung von Putins sogenannter Schattenflotte seit der russischen Invasion der Ukraine im Februar 2022 deutlich zugenommen haben. Im Vergleich zum ersten Kriegsjahr stieg die Zahl der Signallücken bis zum Jahr 2025 weltweit auf mehr als das Doppelte.
Zur Schattenflotte zählen westliche Sicherheitsbehörden fast 1.400 von Russland kontrollierte Schiffe, darunter Öl- und Gastanker, die mutmaßlich zur Umgehung von Sanktionen eingesetzt werden. Dazu gezählt werden auch Frachtschiffe, die im Verdacht stehen für Russland Waffen zu transportieren. Hinzu kommen sanktionierte Schiffe russischer Unternehmen.
Mehrere Tausend Positionsausfälle pro Jahr
Besonders in der Ostsee „verschwanden“ immer häufiger Schiffe von Putins Schattenflotte. Waren es im Jahr 2022 noch wenige Hundert Positionsausfälle, stieg diese Zahl auf mehrere Tausend pro Jahr. Als Positionsausfälle wurden solche berücksichtigt, die mehr als acht Stunden andauerten, oder sich über mehr als 200 Kilometer erstreckten.
Die Daten stammen von Global Fishing Watch und umfassen alle Ausfälle des Automatischen Identifikationssystems (AIS) im Zeitraum von Januar 2020 bis zum 1. September 2025. Die Daten wurden von der Journalisten-Organisationen „Follow the Money“ und von „Pointer“ aufbereitet.
„Es ist das neue Normal in der Schifffahrt, dass man sich nicht darauf verlassen kann, dass das, was man auf der digitalen Navigationskarte sieht, auch der Wirklichkeit entspricht“, erklärt Elisabeth Braw von der Denkfabrik Atlantic Council. Seit dem Jahr 2000 sind größere Schiffe grundsätzlich verpflichtet, ein AIS-Signal zu senden. Neben Radar ist es das wichtigste Instrument, um Kollisionen zu verhindern – besonders in viel befahrenen Gewässern wie der Ostsee.
„Das Risiko, dass ein Unfall passiert, weil ein Schiff das andere nicht sieht, besteht jeden Tag“, sagt Braw. Ausfälle des AIS durch schlechte Wetterbedingungen oder schlechte Satellitenabdeckung sind ebenfalls möglich, erklärten ihrer Meinung nach allerdings nicht den Anstieg.
Aktivitäten gezielt verschleiert
In der Ostsee ist die Ortung besonders häufig vor Kaliningrad und St. Petersburg gestört oder ausgeschaltet. Experten gehen davon aus, dass hier Aktivitäten gezielt verschleiert werden sollen. Ihnen zufolge unterhält Russland bei St. Petersburg und Kaliningrad Waffendepots, sowie wichtige Häfen für den Export von Öl. Der starke Anstieg von Ausfällen im Ortungssystem seit 2022 könnte der Versuch sein, Angriffen von ukrainischen Drohnen zu entgehen.
Die Ortungslücken können von der Crew selbst ausgelöst werden, indem sie das AIS manuell abschaltet. Das System lässt sich jedoch auch manipulieren – etwa durch die Angabe falscher Koordinaten, bekannt als Spoofing. „Wenn Öltanker der Schattenflotte die Häfen in Primorsk oder Ust-Luga anlaufen, fälschen sie ihr Signal und verlegen es in die Nähe der finnischen Küste“, erklärt Margaux Garcia von der Nichtregierungsorganisation „Center for Advanced Defence Studies“, kurz C4ADS.
Vor der finnischen Küste erscheinen häufig Schiffe dann so, als würden sie in engen Kreisen navigieren – was für große Tanker praktisch unmöglich ist.
Tanker mit angeblich 50 Knoten
Auch der 24 Jahre alte Tanker „Rangler“ lag laut Satellitenbildern vor seiner Fahrt durch die Ostsee am Öl-Export-Terminal im Hafen von Ust-Luga. Doch laut AIS-Daten fährt der Tanker immer wieder mit angeblich 50 Knoten – mehr als 90 km/h – in Richtung finnischer Küste und fährt dort angeblich Halbkreise. Offenbar handelt es sich um manipulierte Positionsdaten.
Anfang November sorgte eine solche Spoofing-Attacke dafür, dass innerhalb weniger Minuten plötzlich Tausende Schiffe auf Schiffs-Tracking-Plattformen wie Marine Traffic und Vesselfinder in der Ostsee erschienen. Unter ihnen angeblich auch Kriegsschiffe und Schiffe, die schon seit Jahren verschrottet sein sollten. Der Vorfall dauerte etwa eine halbe Stunde. Es war der erste Vorfall dieser Größenordnung und verdeutlicht, wie verwundbar das Ortungssystem der Schifffahrt ist.
Die Ereignisse alarmieren auch die deutsche Handelsschifffahrt. Insgesamt habe die Zahl und geografische Ausdehnung der Störungen in den vergangenen zwei Monaten nochmals deutlich zugenommen, berichtet Irina Haesler vom Deutschen Reederverband.
Mitgliedsunternehmen würden fasst täglich Fälle von Spoofing und auch Jamming melden. Beim Jamming werden Störsignale gesandt, die den Empfang von AIS- und auch GPS-Positionsdaten verhindern sollen. Diese Manipulation betrifft dann alle Schiffe in einem bestimmten Gebiet. „Das Seegebiet, in dem Störungen auftreten können, ist inzwischen deutlich größer als noch vor einem Jahr“, sagt Haesler.
Marine: Enger Austausch mit Partnern
Die Deutsche Marine sieht in den zunehmenden Störungen bei GPS und AIS erhebliche Herausforderungen für die Handelsschifffahrt und eine Beeinträchtigung der sicheren Navigation. Aus operativen Gründen äußert sie sich nicht zu möglichen Ursachen der Ausfälle bei der russischen Schattenflotte und hält sich auch sonst bedeckt. „Sie können davon ausgehen, dass wir ein dezidiertes Lagebild führen und uns eng mit unseren Partnern und Verbündeten austauschen“, so ein Sprecher.
Der Handlungsspielraum für Marine, Behörden und Politik ist allerdings begrenzt: Zwar verstoßen Ausfälle im Ortungssystem gegen das Seerecht, doch Schiffe dürfen in internationalen Gewässern nur im Einvernehmen mit dem Flaggenstaat kontrolliert werden. Diese können, müssen aber nicht kooperieren. In Europäischen Häfen gäbe es für die Behören eine Handhabe, diese laufen die betreffenden Schiffe jedoch nicht an.
Vor allem wirtschaftliche Gründe
Der starke Anstieg weltweit von Ausfällen im Ortungssystem seit 2022 hat vor allem wirtschaftliche Gründe, wie die Verschleierung eines illegalen Verkaufs von russischem Öl. Vermutlich verschwindet deshalb auch der Tanker „Rangler“ einige Stunden von den Navigationsplattformen, während er auf offenem Meer zwischen Oman und Indien liegt. Direkt neben ihm befindet sich laut Schiffstracking-Plattformen zu diesem Zeitpunkt die ebenfalls sanktionierte „Arabesca“ aus der Schattenflotte.
Nach dem Treffen liegt die „Rangler“ offenbar mehrere Meter höher im Wasser – ein Hinweis darauf, dass er entladen wurde. Wohin die „Arabesca“ die mutmaßlich umgeladene Fracht bringt, ist unklar: Der Tanker hatte sein Funksignal sowohl vor als auch nach dem Treffen ausgeschaltet. Die Eigentümer der „Rangler“, die bei einer Briefkastenfirma auf den Seychellen gemeldet sind, waren für unsere Fragen nicht erreichbar.