
Wer soll über Schuld entscheiden – Richter oder das Volk? Diese Frage spaltet gerade das Vereinigte Königreich. Denn Justizminister Lammy plant eine weitreichende Justizreform.
Jahrelang wurde die Britin Katie Catt von ihrem Partner geschlagen. 2017 traute sie sich, ihn anzuzeigen. Doch erst sechs Jahre später fiel das Urteil. Das Warten, die Angst und die Ungewissheit seien hart gewesen. „Es ging soweit, dass ich meinen Job und meine Karriere aufgeben musste“, sagt die Britin im ITN-Fernsehen.
So wie Catt geht es in England und Wales zahlreichen Opfern von Gewalt. Wer heute etwa eine Vergewaltigung anzeigt, werde bis 2028 oder 2029 warten müssen, bis der Fall vor Gericht landet, sagt Labour-Justizminister David Lammy. Denn an den Crown Courts, den Strafgerichtshöfen, haben sich knapp 80.000 unbearbeitete Fälle angehäuft. Bis 2028 werden es voraussichtlich 100.000 Fälle sein.
Dabei stellen die langen Wartezeiten nicht nur Prozessteilnehmer vor Herausforderungen. Die veralteten, maroden Gefängnisse sind völlig überfüllt: mit einer Rekordzahl an Inhaftierten in Untersuchungshaft, die etwa 20 Prozent aller Insassen ausmachen.
Richter statt Laien?
Doch nun hat Justizminister Lammy eine Reform angekündigt, die Gerichte entlasten soll. Britische Zeitungen nennen sie die weitreichendste seit Jahrzehnten. Denn sie stellt auch das britische Selbstverständnis in Frage: Lammy will die sogenannten jury trials in der Summe reduzieren. Das sind Schwurgerichtsverfahren, bei denen statt Richter zwölf Laien über Schuld und Unschuld entscheiden – diese Verfahren gelten als aufwändiger und zeitintensiver. Stattdessen sollen vor allem mehr ehrenamtliche Richter zum Einsatz kommen.
Noch können Angeklagte nach mittelschweren Vergehen, wie etwa Diebstahl oder Drogendelikten, selbst bestimmen, ob ihr Fall von einem Richter oder einer Jury entschieden werden soll. Bei schweren Fällen entscheidet automatisch die Jury.
Das habe einen wichtigen Grund, erklärt Tony Lenehan, Rechtsanwalt in Schottland. Die Geschworenen stellten nicht nur einen echter Querschnitt der britischen Bevölkerung dar. „Sie sind auch anonym, haben kein persönliches Interesse am Ausgang des Verfahrens und können deshalb völlig unabhängig entscheiden. Und selbst wenn einer der zwölf Laien eine extreme Meinung hat, dann wird sie wahrscheinlich durch jemand anderes wieder ausgeglichen.“
Männlich, alt, weiß
Berufsrichter hingegen seien angreifbarer für den Vorwurf, dass sie sich mit der Politik gemein machen, bei prominenten Fällen im Sinne ihrer Karriere entscheiden. Außerdem spiegelten sie nicht die Bevölkerung wider: Sie seien vor allem männlich, alt, weiß und aus der gesellschaftlichen Elite.
Diese Einschätzung teilen auch Parteikollegen von Lammy, so wie Helena Kennedy aus dem Oberhaus: „Richter hier haben im Großen und Ganzen einen sehr ähnlichen Hintergrund“, so Kennedy. „Sie haben dieselbe Ausbildung, dieselbe Herangehensweise und gehören denselben Clubs an.“ Vereinfacht gesagt, sollen die Schwurgerichtsverfahren also vor einem möglichen Machtmissbrauch schützen.
Justizminister David Lammy verteidigt Anfang Dezember seine Justizreform. Es gehe darum, eine Notlage im Justizsystem zu bewältigen.
Justizminister verteidigt Reformvorhaben
Doch Justizminister Lammy möchte die Zahl der „jury trials“ in England und Wales trotzdem halbieren: Bei Straftaten mit voraussichtlich weniger als drei Jahren Freiheitsstrafe sollen sie wegfallen, nur noch bei besonders schweren Straftaten wie Mord, Raub und Vergewaltigung zum Einsatz kommen.
Außerdem, rechnet Lammy vor, endeten 90 Prozent aller Fälle ohnehin vor dem „Magistrates Court“ für kleinere Delikte, ähnlich dem Amtsgericht in Deutschland. Nur zehn Prozent gingen an die Strafgerichtshöfe, in sieben Prozent plädierten die Beschuldigten direkt auf „schuldig“, sodass ohnehin nur in drei Prozent der Fälle eine Jury zum Einsatz käme.
Kleinkriminelle spekulieren auf den Faktor Zeit
Dies seien zudem oft Fälle, fügt Labour-Staatssekretärin Sarah Sackman hinzu, bei denen sich Kleinkriminelle bewusst für das Jury-Verfahren entschieden hätten, „weil sie wissen, dass sie nicht nur dieses Weihnachtsfest, sondern auch noch das nächste und das übernächste mit ihrer Familie verbringen können, ohne sich einem Gerichtsverfahren stellen zu müssen“.
Somit tragen aus Sicht des Justizministeriums also Verhandlungen über ein gestohlenes Fahrrad oder Cannabisbesitz dazu bei, dass der Stapel unbearbeiteter Fälle immer weiter wächst und Opfer von Gewalt lange auf ein Urteil warten müssen sowie Gefahr laufen, sich Jahre später retraumatisieren zu lassen. Nach Angaben der Regierung würden zum Beispiel mehr als zehn Prozent der Vergewaltigungsfälle eingestellt, weil das Opfer sich aus dem Verfahren zurückgezogen habe.
Eine Art Filter für Vorurteile
Doch für Rechtsanwalt Tony Lenehan geht’s ums Prinzip. „Recht wird im Namen des Volkes gesprochen. Wenn wir das Volk aus dem Prozess herausnehmen, vergessen wir, warum wir dieses System überhaupt eingeführt haben.“ Dazu komme, dass viele Angeklagte besonders schutzbedürftig seien. „Meine Erfahrung zeigt, dass Menschen, die vor Gericht landen, zu einem großen Teil aus schlimmsten sozioökonomischen Verhältnissen stammen. Sie haben einen viel höheren Anteil an psychischen Problemen, Kommunikationsproblemen. Die Aushöhlung ihres Schutzes muss gut durchdacht sein.“
Die Londoner Anwältin Gemma Lindfield gibt außerdem zu Bedenken, dass Richter in England und Wales eher wie neutrale Schiedsrichter den Streit zwischen Anklage und Verteidigung moderieren. Anders als in Deutschland griffen sie kaum ein, „untersuchen den Fall nicht selbst aktiv“, so Lindfield, indem sie etwa eigene Fragen stellen oder mehr Beweise fordern.
Deshalb sei die Jury so wichtig: Sie zwinge Anklage und Verteidigung, zwölf ganz normale Briten von ihrem Anliegen zu überzeugen und funktionierten dabei wie ein Art Filter für Vorurteile, so Lindfield.
„Und wo soll das enden“, fragt die Anwältin? Sie fürchtet, Lammys Justizreform könnte ein Dammbruch sein, um die Schwelle für Schwurgerichtsverfahren in Zukunft noch höher zu hängen und sie so weiter zu reduzieren, was wiederum das Vertrauen in die Rechtstaatlichkeit und demokratische Institutionen erodieren lassen könne.
Marode Gebäude, veraltete Technik
Zumal es aus Lindfields Sicht weniger die Laien sind, die schnellen Prozessen im Weg stehen, als marode Gebäude, veraltete Technik, Mangel an Übersetzern und Gefängnisse, die so überlastet sind, dass Insassen nicht rechtzeitig in den Gerichtssaal gebracht würden. Sie wünscht sich deshalb vor allem mehr Geld von der Regierung. Das hat Justizminister Lammy auch versprochen: mehr als 550 Millionen Pfund in den nächsten drei Jahren. Doch an der Reform der „jury trials“ hält er vorerst fest.
In dem Prozess um Katie Catts gewalttätigen Ex-Partner entschieden 2017 übrigens auch zwölf Geschworene. Darüber sei sie trotz der langen Wartezeit froh gewesen, sagt die Britin. „Das war meine Chance, zwölf Menschen meine Geschichte zu erzählen. Ich denke nicht, dass ein einziger Richter hätte entscheiden können.“
