ROLLING STONE Badge

Empfehlungen der Redaktion

Es gibt einige lustige Stage Fails in der Konzertgeschichte von Radiohead (die meisten davon sind auf YouTube dokumentiert), sie zeigen eine für den Moment gescheiterte Kooperation zwischen Menschen und Maschine: Thom Yorke bekommt einen Lachanfall, weil ein nicht abzustellendes Voice-Sample stoisch seinen Live-Gesang unterbricht; Thom Yorke verlässt sauer die Bühne, weil Jonny Greenwood seine Rhythmusmaschine nicht abstellen kann, Yorke aber auch nicht stundenlang weitertanzen will. Einen ähnlich eindrucksvollen Moment erlebte das Publikum beim gestrigen, zweiten Berlin-Konzert der Band (lesen Sie den Konzertbericht zum ersten Auftritt hier).

Die Mensch-Maschine

Während Song zwölf, „Sit Down, Stand Up“, ist Greenwood zu lange vor dem Keyboard am Schaffen und schafft es nicht rechtzeitig rüber zu seinem Sequenzer, um Tasten zu drücken. Die dramatisch-pumpenden, das echte Schlagzeug begleitenden Beats setzen zu spät ein und in der falschen Taktung, Yorke versucht zunächst seinen Gesang anzupassen, nimmt dann aber die Hände von seinen Klaviertasten, die gesamte Band gerät aus dem Takt. Yorke wischt sich die Hände an den Hosenbeinen ab und schenkt Greenwood einen herrlich wütenden Blick, den hoffentlich jemand gefilmt oder fotografiert hat, weil es so einen Blick von ihm sonst nur selten öffentlich zu sehen gibt (hier ist ein Video, allerdings ohne Fokus auf Yorke).

Greenwood hat derweil längst beide Arme in einer „ich bin unschuldig!“-Geste in die Luft gerissen. Die E-Beats laufen weiter. Phil Selway setzt wieder mit dem Schlagzeugrhythmus ein, Greenwood drückt diesmal im richtigen Moment den richtigen Knopf, Yorke setzt auf seinem Klavier neu an, die Band bringt „Sit Down, Stand Up“ zu Ende. „Diese Maschinerie ist unberechenbar!“, sagt Yorke danach. „Maschinerie“ statt „Maschine“ – er meint das große Ganze. Kraftwerk, die in einer nur wenige Meter entfernten Halle am selben Abend auftreten, könnte sowas eher nicht passieren.

Das Publikum applaudiert, es liebt Radiohead für diese perfekte Unperfektheit. Eine Live-Panne, die einen faszinierenden Einblick bietet in die Arrangements einer Band, die verschiedene elektrische und akustische Instrumente mit Elektronik paart, und in der es kein Playback oder Backing Tape gibt, um die fehlenden Sekunden auszugleichen, wenn Jonny Greenwood einen Tick zu spät vom einen Maschinenpark zum anderen läuft, was halt daran lag, dass er zu verträumt woanders am Spielen war. Diese Reverse-Engineering-Einblicke in die Arbeitsweise eine der besten Studiobands unserer Zeit sind Gold wert.

Rundbühne und Quadranten

Radiohead treten auf einer Rundbühne auf, daher sind Pannen oder Improvisationen viel lustiger anzusehen als auf einer Frontalbühne. Die Musiker spielen ja in ihrem eigenen Quadranten, selten nebeneinander – ruckartige „Was soll denn das hier plötzlich?“-Kopfbewegungen über die Schulter sind dann die Folge (wenn Thom Yorke mit seiner Gitarre am Hauptmikrofon steht, und das betrifft immerhin zwölf der 25 Songs, steht ihm der Soundmixer gar im Rücken, auch hier gibt es ruckartige Schulterblicke).

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube

Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Soziale Netzwerke aktivieren

Wie ist „Berlin 2“ im Vergleich zu „Berlin 1“? Die Setlist unterscheidet sich in 14 von 25 Stücken, was dem Unterschied vom vorangehenden „Kopenhagen 2“ und „Kopenhagen 1“ entspricht. Radiohead haben unter den 65 für die Tournee einstudierten Liedern also eine für sie ideale Set-Dramaturgie entwickelt. In Berlin sind die jeweiligen Alben-Klassiker bislang halbwegs fair auf die ersten beiden Auftritte verteilt: „Lucky“ vs. „Airbag“, „The Gloaming“ vs. „Myxomatosis“, „The National Anthem“ vs. „Optimistic“. „Berlin 2“ wirkt durch seine Balladen, „Nude“, „Reckoner“, „Pyramid Song“ und „How To Disappear Completely“, etwas elegischer. Bei „Nude“ spielt der meist selten im Rampenlicht stehende Ed O’Brien das Gitarrensolo, Jonny Greenwood verschränkt dabei die Arme hinter seinem Rücken – eine gut gemeinte „Jetzt stehe mal nicht ich im Mittelpunkt“-Geste.

Fest steht auch, dass das auf Radiohead-Tourneen lange verschmähte „Jigsaw Falling Into Place“ dem Publikumsjubel nach zu urteilen ein absolutes Lieblingslied darstellt. Allerdings steht auch fest, dass das Klangbild nicht recht funktioniert. Bei allen Songs, in denen drei E-Gitarren gespielt werden, schaffen die Höhen es nicht mehr durch den Bass, es entsteht der „Soundbrei“. Das Britpop-artige „The Bends“ (hätte auch gut auf das Travis-Album „Good Feeling“ gepasst) und „Bodysnatchers“ sind während mancher Passagen nicht mehr zu erkennen.

Akustische Höhepunkte

Schöner anzuhören sind die Lieder mit Akustikgitarre, etwa das wie ein verlorenes Canzone-Italiana-Stück anmutende, suizidale „Exit Music (For a Film)“, inklusive Giallo-Orgeltönen Greenwoods, und an deren stillem Ende eine Zuschauerin ein perfekt getimtes „Bravo!“ ruft. Das ist schon fast nicht mehr Canzone Italiana, sondern italienische Oper.

Da der Weg von der Rundbühne in der Hallenmitte bis zum Backstagebereich zu weit ist, steigen Radiohead nach Ende des Mainsets eine Treppe herab, verbleiben bis zur Zugabe unter ihrer Bühne und stecken dort die Köpfe zusammen. Thom Yorke und Jonny Greenwood haben sich hoffentlich wieder vertragen.

Der erste Konzertabend endete mit „Karma Police“, einem Lied, das eigentlich nicht funktionieren dürfte, weil es Resignation mit Kampfansage paart. Der Abschluss von „Berlin 2“ ist noch besser, er ist wuchtiger als jedes ihrer Lieder davor. „There There“ vereint den Donner von zwei Schlagzeugen und zwei Steh-Schlagzeug-Sets, ein wütend-nervöses, tribalistisches Herantasten ins Unbewusste, nicht erlöst, sondern noch intensiviert durch Jonny Greenwoods späteren Wechsel an die Leadgitarre. Sein irres, quälendes Solo schreitet der Rhythmus-Kavallerie voran. „There There“ ist das Lied, das Colonel Kurtz im Dschungel gehört haben muss, als er „The Horror, the Horror“ sagte.