Als Dieter Wurm 2003 eine Bank in Berlin überfällt, ist er längst Wiederholungstäter. Der „Skorpion“, wie er wegen eines im Knast selbst gestochenen Tattoos genannt wird, entführt auf der Flucht vor der Polizei einen BVG-Bus samt Insassen. Eine Jagd quer durch die Stadt beginnt, bei dem das SEK im stets auf den Fersen ist. Mit dabei war damals der Ex-Polizist Karsten Loest. Für die True-Crime-Serie „Das dunkle Berlin“ hat er uns erzählt, was er bei der Jagd nach dem „Skorpion“ erlebt hat.
Es gibt in jedem Berufsleben Momente, die brennen sich einem unweigerlich ins Gedächtnis. Das gilt selbst dann, wenn man bei einem so spektakulären Arbeitgeber wie dem Spezialeinsatzkommando (SEK) Berlin angestellt ist, das regelmäßig heikle Fälle durch Erstürmungen, erzwungene Festnahmen und Präzisionsschüsse zu bewältigen hat. Davon kann Karsten Loest ein Lied singen. Über 25 Jahre lang war der 57-Jährige im Polizeidienst tätig, elf davon für die Spezialeinheit der Berliner Polizei.
Doch nur wenige der etwa 1000 Einsätze seiner Karriere waren derart aufsehenerregend wie jener am 11. April 2003, als der Intensivstraftäter Dieter Wurm – besser bekannt als „Skorpion“ – nach einem Banküberfall in Steglitz einen Bus der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) kaperte und mit zeitweise sieben Geiseln 30 Kilometer durch die Stadt donnerte.
Geiseln im BVG-Bus: Die Fakten zum Fall im Überblick

Skrupellos und hochgefährlich: Die Jagd nach dem „Skorpion“
Loest hat noch alte Zeitungsauschnitte des Medien-Spektakels zuhause, das damals in Teilen live von Fernsehen und Radio begleitet wurde und rund 800 Polizisten über knapp fünf Stunden auf Trab hielt. Wenn er sich heute die Bilder ansieht, die zeigen, wie nah er mit seinen Kollegen hinter dem schließlich in Schöneberg gestoppten Bus der Linie 185 gekauert hatte, dann kann er darüber nur den Kopf schütteln.
„Uns war damals gar nicht bewusst, wie lebensgefährlich das für uns war“, so Loest. Zumal die Schutzausrüstung der SEK-Beamten vor zwanzig Jahren nicht annähernd so gut war wie heutzutage. „Wurm hätte uns leicht erspähen und auf uns schießen können.“ Der Geiselnehmer war nach der Entwaffnung einer Polizistin im Besitz zwei scharfer Pistolen. Zudem skrupellos und hochgefährlich.
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Nicht, dass Loest und seine Kollegen das zu diesem Zeitpunkt gewusst hätten. „Im Moment des Einsatzes spielt es für uns aber auch nur eine untergeordnete Rolle, ob der Täter nun nach einem Banküberfall wie zufällig in eine Geiselsituation hineingeschlittert ist oder ob es sich um einen abgebrühten Mehrfachtäter handelt, der das schon drei- oder viermal getan hat“, erklärt der 57-Jährige. „Für die Geiseln und für uns ist die Situation immer gleich gefährlich.“

Karsten Loest war 2003 Teil des Spezialeinsatzkommandos, das die Geiseln aus dem entführten BVG-Bus befreite.
© – | Florian Boillot
Geiselnehmer Dieter Wurm saß schon vor 2003 ganze 17 Jahre im Knast
Doch wie kam es überhaupt dazu, an diesem schicksalhaften 11. April 2003? Es ist ein Freitagmorgen, den sich Wurm und ein bis heute unbekannter Komplize ausgesucht haben, um die Filiale der Commerzbank in der Steglitzer Schloßstraße mit Schusswaffen zu überfallen. Der damals 46-jährige Wurm ist für die Sicherheitsbehörden alles andere als ein Unbekannter. Sein Spitzname „Der Skorpion“ rührt von einer entsprechenden Tätowierung auf seinem Unterarm her, die er sich 1979 selbst im Knast gestochen hat.
Insgesamt 17 Jahre seines Lebens hat der gebürtige Westfale – Heimkind, ehemals linkextremer Hausbesetzer, Wiederholungstäter und zeitweise „rehabilitierter Medienstar“ – 2003 schon hinter Gittern verbracht. Er saß wegen Sprengstoffdelikten, räuberischer Erpressung und Bankraub, wurde nach seinen Entlassungen immer wieder rückfällig, weil er „nicht mit Armut umgehen kann“, wie er stets sagte. Vor Gericht wird Wurm später behaupten, beim Steglitzer Geiseldrama ausnahmsweise einmal aus Liebe gehandelt zu haben. Mit dem Geld habe er einen Nebenbuhler seiner Freundin ausstechen wollen.
Die spektakuläre Jagd nach dem „Skorpion“
Das dunkle Berlin: True Crime aus der Hauptstadt
In ihrer Anfangszeit sorgte die Berliner Morgenpost mit der Erfolgsserie „Über das dunkle Berlin“ für Aufsehen. Nun knüpfen wir daran an – und berichten über die aufsehenerregendsten Verbrechen der Stadt. Unsere True-Crime-Serie: Das dunkle Berlin.
Wurm bringt BVG-Bus der Linie 185 in seine Gewalt
Wo auch immer die Wahrheit in diesem Fall liegt, etwas Beute hatte der Intensivstraftäter zunächst durchaus gemacht. Gemeinsam mit seinem Partner räumt er am 11. April 2003 rund 5000 Euro in Scheinen sowie rund 1000 Euro an Hartgeld ab. Doch dann geht alles schief. Denn als die Räuber die Bank verlassen, werden sie von einer Zeugin verfolgt. Mit ihrem Handy informiert sie die Polizei über den Fluchtweg der Gangster.
Bei denen bricht Panik aus, als sie die Polizeisirenen hören. Während der unbekannte Komplize ungesehen in die U-Bahnstation „Rathaus Steglitz“ entkommt, sprintet Wurm – ein besonders großer und schwerer Mann – zur Bushaltestelle am Steglitzer Kreisel, springt um etwa 9.45 Uhr mit seiner Plastiktüte in einen Doppeldecker der Linie 185.

Immer wieder kam der entführte Bus zum Stehen. Für die Insassen ein Martyrium.
© picture aliance | Michael Hanschke
Ein erster Streifenwagen trifft fast zeitgleich ein. Ohne ihre Waffen zu ziehen, steigen eine Polizistin und ihr Kollege Wurm hinterher in den Bus. Der aber reagiert blitzschnell. Er bedrängt die Beamtin mit seiner Pistole, fordert ihre Waffe. Angesichts des Auftretens und der Statur des Mannes kommt sie dem widerstandslos nach. Später wird die Polizistin sagen, sie habe in diesem Moment gedacht, „aus dieser Sache nicht mehr lebend rauszukommen“.
Geisel-Drama in Steglitz: 30 Kilometer lange Irrfahrt durch Berlin
Mit nunmehr zwei Waffen in seinem Besitz droht Wurm alle Insassen des Doppeldeckers zu erschießen, sollte der Polizist an der Tür nicht sofort den Bus verlassen. Mit erhobenen Händen steigt der Beamte aus. Die Tür schließt sich. Der BVG-Bus rollt los. Als Wurm mit der Dienstwaffe der Polizistin hantiert, löst sich versehentlich ein Schuss, der das Hosenbein des Geiselnehmers durchschlägt und die Geiseln vor Schreck zusammenzucken lässt.

Zu dieser Zeit befindet sich Karsten Loest nur per Zufall auf der zuständigen Dienstelle. Wegen einer Besprechung, an deren Inhalt er sich heute nicht mehr erinnern kann. Als die Nachricht von der Geiselnahme eintrifft, schließt er sich kurzerhand dem angeforderten SEK-Team an, übernimmt später die Koordination der Einsatzkräfte vor Ort. „Die erste halbe Stunde einer Geiselnahme ist sicher die gefährlichste, es gibt viele Faktoren, die die Situation eskalieren lassen können“, sagt Loest. „Eine Geisel, die den Held spielen will, ein Polizist, der glaubt, der Sache allein Herr zu werden, ein Geiselnehmer, der nach einem Überfall noch voller Adrenalin ist.“
Die erste halbe Stunde einer Geiselnahme ist die gefährlichste.
Ex-SEK-Beamter Karsten Loest
Dennoch habe er früh den Eindruck gewonnen, dass Wurm ruhig, bedacht und abgeklärt vorgeht. Er habe jedenfalls nicht wie jemand gewirkt, der plötzlich ausrastet und um sich schießt. Loest muss es wissen. Gemeinsam mit seinen Kollegen verfolgt er den gekaperten Bus am 11. April 2003 in Zivilfahrzeugen im Zick-Zack-Kurs über den Hüttenweg auf die Avus, durch den Stau am Dreieck Funkturm und am S-Bahnhof Tiergarten vorbei bis zum Sachsendamm nach Schöneberg.
In Schöneberg spitzt sich die Situation zu
Zwischendurch lässt Wurm das Gefährt immer wieder unvermittelt anhalten. Nach und nach dürfen einzelne Geiseln aussteigen, bis sich nach einer Stunde Irrfahrt nur noch drei Personen in seiner Gewalt befinden: Die Polizistin, der Busfahrer Mario G. und der Rundfunkjournalist Peter R. In Höhe der Sporthalle Schöneberg wittern die Einsatzkräfte eine günstige Gelegenheit, Zivilfahrzeuge der Polizei bremsen den Bus aus. Das Fahrzeug wird umstellt.
Erst jetzt beginnt das eigentliche Drama. Ein SEK-Mann startet die Verhandlung mit Wurm. Der verlangt ein Auto und einen Hubschrauber zum Abzug, ein Handy und eine Cola. Der „Skorpion“ droht weiterhin mit dem Tod der Geiseln. Er wolle sich lieber erschießen lassen, als erneut in den Knast. „Da bemerkte ich, dass sich der Busfahrer von seinem Sitz gelöst hatte und aus dem Fenster klettern wollte“, erinnert sich Loest. „Ich war einer der beiden Beamten, die ihn sicher aus der Kabine gezogen haben.“ Wurm ist außer sich vor Wut.

True Crime Bus Geiselnahme
© picture aliance | Andreas Altwein
Überraschungsmoment: Zwei Schüsse kurz nacheinander
Und an einer weiteren prägnanten Entwicklung des Geiseldramas hat Loest maßgeblichen Anteil. Nach stundenlanger Unterredung mit Wurm – der zwischenzeitlich aus dem Bus heraus dem Berliner Rundfunk ein Interview gibt – bemerkt Loest eine Veränderung bei seinem Kollegen, dem Verhandlungsführer.
„Es bestand die ganze Zeit über die Möglichkeit, dass die Präzisionsschützen Dieter Wurm in einem geeigneten Moment gezielt ausschalten“, sagt Loest. Er habe seinen Männern gesagt, sich bereit zu halten, als sein Kollege gegen 14.30 Uhr erneut das Gespräch mit Wurm sucht. „Dadurch konnte mein Team den folgenden Überraschungsmoment voll ausnutzen.“
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Der Rest ist Geschichte. Als Wurm seine beiden Pistolen ganz kurz so hält, dass sie nicht mehr auf die Geiseln und ihn gerichtet sind, ist es so weit. Der SEK-Schütze zieht die Waffe, feuert dem Täter aus nächster Nähe zwei Schüsse kurz hintereinander in die Schulter. Wurm wird nach hinten gerissen.
Dieter Wurm sitzt für den Rest seines Lebens hinter Gittern
Fast zeitgleich stürmt Loest mit seinen Männern den Bus und befreit die beiden übrigen Geiseln. „Das Zusammenwirken eines ganzen Kommandos wird natürlich immer wieder in Übungen trainiert, aber ein so erfolgreiches, schlagartiges Eindringen in ein Zielobjekt habe ich nicht noch einmal erlebt“, so Loest. „Das bleibt einem für immer in Erinnerung.“
Wurm wurde wegen des bewaffneten Raubüberfalls 2004 zu elf Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Den Rest seines Lebens wird der berüchtigte „Skorpion“ daher voraussichtlich hinter Gittern verbringen.