Nach Kriegsende versuchten die Alliierten, nationalsozialistische Ideologien in der deutschen Gesellschaft zu beseitigen. 1946 begann in Nordrhein-Westfalen die vom englischen Begriff „Denazification“ abgeleitete Entnazifizierung.
Dabei musste ein Teil der Bevölkerung, darunter viele Angehörige des öffentlichen Dienstes, Fragebögen ausfüllen zu ihrer politischen Betätigung, vor allem zur Mitgliedschaft in der NSDAP und angegliederten Organisationen in der Zeit des Nationalsozialismus. Sogenannte Entnazifizierungsausschüsse bewerteten die Schwere der Schuld in fünf Kategorien: von „Hauptschuldigen“ bis zu „Entlasteten“. Belastete wurden aus Ämtern entfernt, weniger Belastete konnten im Beruf bleiben.
Kritik gab es an der Durchführung und den Ergebnissen der Entnazifizierung, da Schuldige unter anderem mit Leumundszeignissen, sogenannten „Persilscheinen“, ungestraft davonkamen. Zurzeit läuft im Landesarchiv NRW am Duisburger Innenhafen die Ausstellung „Zwischen Sein und (Persil)Schein – Entnazifizierung in Nordrhein-Westfalen“, die anhand der im Landesarchiv vorhandenen Quellen die Entwicklung der Entnazifizierung zeigt und die formalen Verfahrensabläufe vorstellt.
Zugleich soll anhand biografischer Ansätze deutlich werden, in welch hohem Maße die gesetzlichen Vorgaben individuell unterlaufen werden konnten. Durch diese Gegenüberstellung soll ein authentischer Blick auf ein wichtiges Kapitel der unmittelbaren Nachkriegszeit in all ihren Widersprüchen und Brechungen ermöglicht werden.
In der begleitenden Veranstaltungsreihe werden ausgewählte Aspekte des Themas weiter vertieft. Nun hielt Dr. Martin Schlemmer, selbst ein Mitarbeiter des Hauses, dort einen Vortrag mit dem Titel „‚Persilschein‘ – Stadt- Entnazifizierung? Der Ablauf eines Entnazifizierungsverfahrens am Beispiel des Duisburger Oberbürgermeisters Hermann Freytag“. Zunächst ging er noch einmal das Grundthema durch und reicherte es mit einigen neuen Sichtweisen an. Ursprünglich sollten alle Deutschen über 18 Jahren den Fragebogen ausfüllen – in der britischen Besatzungszone waren es am Ende aber nur zehn Prozent der Bevölkerung, und da man mit den „einfachen Fällen“ begonnen hatte, um später mehr Zeit für kompliziertere Verfahren zu haben, waren zunächst viele Opfer des NS und sogar Auschwitz-Überlebende an der Reihe. Bald wurden die Kriterien gelockert – „belastet“ war nun nicht mehr pauschal jeder, der Mitglied in einer NS-Organisation gewesen war, sondern entscheidend wurde das tatsächliche Verhalten im Alltag des „Dritten Reiches“. Das entsprach eher der Realität, öffnete aber auch den Weg für „Persilscheine“ und führte letztlich zum Scheitern und Abbruch der Entnazifizierung, weil es sich als aussichtslos erwies, so vielen Einzelfällen gerecht zu werden.
Hermann Freytag war von 1937 bis 1945 der von den Nazis eingesetzte Oberbürgermeister der Stadt Duisburg. Nach seiner Absetzung entzog er sich einer Internierung durch Flucht nach Ostwestfalen-Lippe. Später sammelte der Entnazifizierungsausschuss in Essen widersprüchliche Aussagen zu seiner Person und seinem Handeln. Einerseits gab es Berichte von Übergriffen, eher als NS-Kreisleiter von Essen denn als OB von Duisburg, so soll er Gewalt gegen Demokraten vor allem von der SPD angewendet haben, bis hin zur Folter. Andererseits bescheinigte ihm sein demokratischer (wenngleich national-liberaler) Vorgänger Karl Jarres bestimmte Sekundärtugenden wie Zuverlässigkeit, Geduld und sogar Toleranz.
Dem Untersuchten wurden am Ende die Pensionsansprüche entzogen, auch seine Witwe erhielt später keine Rente. Schlemmer leistete hier einen ersten Ansatz zu einer noch zu verfassenden und sicherlich spannenden wissenschaftlichen Biografie von Hermann Freytag.
Bei der nächsten Veranstaltung am Dienstag, 13. Januar, um 18 Uhr, referiert die aus den Sozialen Medien bekannte Historikerin Susanne Siegert (Leipzig) über „Gedenken neu denken – Wie sich unser Erinnern an den Holocaust verändern muss“. Der Eintritt ist frei. Vor den Vorträgen besteht die Möglichkeit, in einer einstündigen und gleichfalls kostenlosen Führung das Landesarchiv kennenzulernen. Treffpunkt dafür ist jeweils um 17 Uhr im Foyer. Nach den Vorträgen lädt das Landesarchiv zu einem Umtrunk ein.