
Evelyn Palla hat einen der undankbarsten Top-Jobs des Landes übernommen. Die Bahnchefin soll die Staats-AG aus dem Chaos führen. Sie beginnt mit einem kleinen Kahlschlag – und leichten Verbesserungen.
„Neustart“ steht auf einem riesigen Flachbildschirm im 15. Stock des Bahn-Towers. Weiße Schrift auf Bahn-Rot, es sieht kraftvoll aus, deutlich und entschlossen. Um 10.30 Uhr tritt – pünktlich wie angekündigt – Bahn-Chefin Evelyn Palla vor den Schriftzug. Das Pressegespräch beginnt, Fotos gibt es keine, O-Töne vor der Kamera auch nicht. Gut 20 Journalisten sind da und schreiben mit. Kleiner Bahnhof für den großen Neustart.
Als erstes verkündet Palla ein paar kleinere Grausamkeiten. Mehrere Top-Manager müssen gehen, ihre Jobs werden großteils ersatzlos gestrichen. So hat der Konzernvorstand zukünftig nur noch sechs statt acht Mitglieder. Für die, die gehen müssen, wird es wohl eine Abfindung geben, deutet sie an.
Schlank, dezentral und irgendwann pünktlich
„Schlanker“ soll die Deutsche Bahn werden, verkündet Palla. Und „dezentraler“. Beide Begriffe bemüht sie immer wieder. Sie sind der Kern ihres Programms. Palla will sparen, aber vor allem optimieren.
Sie rattert die Ressorts durch. Einiges wird zusammengefasst, Verantwortlichkeiten neu strukturiert – aber eine Zäsur mit der Brechstange will Palla der Deutschen Bahn offenbar ersparen. Geht alles gut, fährt die Bahn wieder pünktlicher und zuverlässiger. Irgendwann.
Der Bahn-Experte Christian Böttger, Professor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin, sieht darin einen überfälligen Schritt. „In den letzten Jahren sind die Strukturen immer weiter zentralisiert worden“, sagt er. Die Bahn-Zentrale habe einen enormen Personalaufwuchs erlebt.
Gewachsene Konzernzentrale
Das habe zu Doppelarbeit geführt. Analysen und Entscheidungen seien zweimal gemacht worden, in den jeweiligen Geschäftsbereichen vor Ort und zusätzlich in der Zentrale. „Auch die haben ja viel mit- und gegeneinander gearbeitet“, fasst Böttger es süffisant zusammen.
Böttger gehen die Kürzungen in der Vorstandsriege womöglich noch nicht weit genug. „Es muss eigentlich darum gehen, dass man die gesamte Organisation verschlankt.“ Nur so könne auch das zweite Ziel, eine echte Dezentralisierung mit Entscheidungen vor Ort realisiert werden. Doch über weitere Kürzungen soll bei der Bahn frühestens 2026 entschieden werden. Pallas Strategie ist offenbar einer der einzelnen Schritte.
Kein „Big Bang“
„Es wird natürlich keinen Big Bang geben“, sagt Palla auf die Frage, ab wann die desaströsen Pünktlichkeitswerte der Bahn wieder nach oben gehen. Momentan kommt gerade einmal gut jeder zweite Fernzug pünktlich an. Kein „Big Bang“ – keine schnelle Besserung also.
Stattdessen kommt sie auf den Trend zu sprechen – und räumt sofort ein: Mit der Bahn geht es seit Jahren bergab, eben mit der Pünktlichkeit und der Zuverlässigkeit. Diese Talfahrt müsse als erstes gestoppt werden. Stabilisieren, dann besser werden also.
Es ist ein neuer Tonfall, den sie sich erlauben kann. Jahrelang hatte die Bahn davon geredet, dass die Talsohle erst durchschritten werden müsse. Zum Beispiel durch große Generalsanierungen, die auf ganzen Strecken zu Vollsperrungen führten. Das sei unumgänglich, hieß es stets von der DB.
Ende der „Entschuldigungskultur“
Unter Palla – so verkündet sie es zumindest – soll das nicht mehr so einfach gelten. „Wir wollen uns verabschieden von einer Entschuldigungskultur, warum die Dinge nicht funktionieren“, sagt sie.
Mehr Geld habe man auch zur Verfügung, dank des schuldenfinanzierten „Sondervermögens Infrastruktur“ der Bundesregierung. Damit kann man viel bauen. Nur solle das in der Zukunft in Absprache mit dem Teil des Bahn-Konzerns erfolgen, der nicht für Baustellen zuständig ist, sondern dafür, dass die Bahn auch fährt. Zu viele Zugausfälle seien darauf zurückzuführen, dass häufig munter drauf los gebaut worden sei – mit zu wenig Rücksicht darauf, dass hin und wieder ja auch mal ein Zug rollen sollte.
Doch der marode Zustand des Netzes bleibt nach wie vor. Und er wird täglich schlimmer. Die Bahn schafft es nicht, ihr Netz so schnell zu renovieren, wie Anlagen aus Altersgründen ausfallen. „Gegen die Anlagenalterung müssen wir maximal anbauen“, sagt sie – und macht damit klar, warum es keinen „Big Bang“ geben wird. Das Netz ist alt und es ist zu voll. „Die Zugdichte, die wir heute haben, ist Mitverursacher für die Probleme bei der Pünktlichkeit“, analysiert Palla in für Bahn-Chefs ungewohnter Offenheit. Sprich: die Bahn fährt im Grunde zu viel, nicht zu wenig.
Zu volles Netz
Denn gemessen an der Leistungsfähigkeit der Bahn ist das Netz zu voll. Die Kapazität ist auf Anschlag – oder darüber hinaus – ausgelastet. Kein Wunder, hatten doch ganze Ahnenreihen von Verkehrsministern in Bund und Ländern ihren Amtsauftrag dergestalt interpretiert, immer noch mehr Bahnverkehr vom Staatskonzern zu fordern. Wahlweise für „die Verkehrswende“, für „das Klima“, für „die Zukunft“: Die Motive waren austauschbar, die Forderungen immer gleich.
Verdoppeln sollten sich die Fahrgastzahlen bis 2030, so hatte es die Große Koalition 2018 beschlossen. Unter Pallas Amtsvorgänger Lutz ist dieses System der maximalen Forderungen einerseits und einer überlasteten Bahn andererseits krachend gescheitert.
Frustrierte Fahrgäste, frustrierte Eisenbahner
Die neue Chefin soll aus den Scherben jetzt ein funktionierendes Verkehrsunternehmen wiederaufbauen. Mitentscheidend über ihren Erfolg dürfte dabei sein, ob sie die unvermeidlichen Wunschzettel aus dem Verkehrsministerium widerspruchslos entgegennimmt oder gelegentlich auch einmal auf die nüchterne Realität verweist.
Inzwischen ist die Lage der Bahn so dramatisch, dass nicht nur die Fahrgäste – und solche, die es vielleicht aus Frust schon gar nicht mehr sind – höchst unzufrieden sind. Selbst die eigene Belegschaft hat laut einer aktuellen Mitarbeiterumfrage das Vertrauen in die Strategie der Führungsetage verloren.
Katastrophe als Chance
Genau in dieser Katastrophe liegt Pallas Chance. Nach dem Motto: Viel schlechter kann es doch eigentlich nicht mehr werden. Oder? Sie versucht es jetzt jedenfalls mit einem „Kulturwandel“. Weg von der Zentralisierung der Vorgängerjahre, in der die Konzernzentrale immer weiter anwuchs und immer mehr Entscheidungen in den Chefetagen getroffen wurden.
„Dezentral“ solle vieles künftig laufen, wünscht sich Palla. Sie will den Ebenen unter ihr mehr Beinfreiheit geben – im Vertrauen darauf, dass die Fachexpertise in den Gewerken bessere Ergebnisse liefert als die Masterplanung aus der Konzernspitze.
Die Chef-Controllerin
Sie will „Leute, die mutig sind, Entscheidungen treffen und am Ende Verbesserungen in der Qualität erzielen“. Palla nimmt die Mitarbeiter in die Verantwortung – und bringt ihnen gleichzeitig Vertrauen entgegen. Die Eisenbahn soll mehr von Eisenbahnern gemacht werden, weniger von Managern.
Und in der Zentrale sitzt die Chefin mit ihrem Vorstand und überwacht lediglich alles, so kann man das Konzept grob zusammenfassen. „Am Ende zählen natürlich die Ergebnisse“, sagt Palla. Genau daran wird auch sie sich messen lassen müssen.
Bahn-Experte Böttger sieht durchaus Chancen, dass die neue Chefin die Kehrtwende schafft. Den Willen dazu gesteht er ihr zu: „Ich gehe mal davon aus, dass sie innerlich durchaus ambitioniertere Ziele hat“. Aber die Vergangenheit habe gezeigt, dass es nichts bringe, der Öffentlichkeit „dauernd Ziele zu verkünden, die man dann ein Jahr später wieder einkassieren muss“.
Eine erste Bilanz könne man vielleicht im Herbst nächsten Jahres ziehen, „wenn man sieht, wie der Sommer 2026 gelaufen ist.“ Palla selbst hat ein vorsichtiges Ziel für das kommende Jahr verkündet. Die Pünktlichkeit solle wieder steigen. Erst einmal auf 60 Prozent.
