Putin hegt den Wunsch, «Russland wieder gross zu machen». Die Mittel, die er dazu anwende, bewirke, dass auch noch die letzten Errungenschaften der UdSSR zerfallen würden, schreibt der Autor Andrei Kolesnikow. So gleichgeschaltet und isoliert wie heute sei Russland noch nie gewesen.
Andrei Kolesnikow12.12.2025, 05.30 Uhr
Wenn Moskau leuchtet: die späten sechziger Jahre waren die Ära eines später als glücklich empfundenen Stillstands.
Imago
Der Mann ist ein typischer Armeerentner, eine Figur in einem sackartigen Anzug mit einem nichtssagenden Gesicht. Als er zufällig einen ehemaligen Kollegen in einem Lebensmittelgeschäft trifft und sich über den Alltag auszulassen beginnt, ist seine Rede voller Ressentiments – alles hat sich verändert, junge Leute interessieren sich nur noch für Konsum, sie sind dem westlichen Lebensstil verfallen, den Liberale über das Land gebracht und dieses so ruiniert haben.
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Nachdem er Kartoffeln und Bier gekauft hat, geht der Mann zum Ausgang. Ein – wie es in einem der Songs der siebziger Jahre heisst, der ständig in allen Radiosendern lief – «gewöhnlicher Sowjetbürger, von denen es Millionen in unserer Union gibt».
Freilich ist das eine Szene aus einer erfundenen alternativen Geschichte: In Wirklichkeit liegt dieser russische Jedermann nicht auf dem Sofa, schaut die Nachrichtensendung «Vremya» (Zeit) und blättert in der ultranationalistischen Zeitung «Sawtra», sondern er regiert ein riesiges Land. Er ist der Herrscher eines ehemaligen Imperiums, dessen Grösse er wiederherstellen möchte. Das Imperium kehrt nicht einfach so zurück – die Soft Power des Kremls erweist sich als zu schwach. Und dann kommt er auf die Idee, es mit Gewalt zurückzuholen, wie eine flüchtige Braut.
Regieren wie Stalin, leben wie Abramowitsch
Imperium heisst das Schlüsselwort. Für die Menschen in Putins Umfeld ist die sowjetische Vergangenheit nur als formale Hülle für die national-imperiale Ideologie wichtig. Darüber bedient es Ressentiments und macht es durch Mobilisierung von nostalgischen und romantischen Vorstellungen über die Sowjetunion einfacher, der russischen Bevölkerung zu erklären, was der Kreml will und warum es unabdingbar ist, Krieg zu führen, so gut wie alle Nachbarn zu hassen und die wirtschaftliche Misere hinzunehmen: Wir wollen unsere Gebiete zurückhaben und mit ihnen unsere Einheit, unseren Stolz und unsere Macht, vor der sich die ganze Welt fürchtete. Unsere Grossväter haben das Land vor den deutschen Nazis gerettet, und jetzt setzen wir ihre Arbeit fort und verteidigen es gegen die Nato, die nicht weniger übel ist als Hitler.
Putin hat den sowjetischen Marxismus-Leninismus durch den nationalen Imperialismus ersetzt, eine Mischung aus Ultranationalismus, russischem Sonderweg und Mission des russischen Volkes, für welches das Geistige höher steht als das Materielle – im Gegensatz zu dem dem Pragmatismus verfallenen säkularen Westen. Wenn die Welt dies nicht begreift und akzeptiert, werden wir ihr unsere besondere Rolle unter die Nase reiben – mit kriegerischen Mitteln.
Putin mag Lenin nicht – dieser hat für ihn die Grundlagen des Russischen Reiches untergraben. Putin mag Stalin – dieser hat das Reich wieder aufgebaut und es mit Gewalt gegenüber inneren und äusseren Feinden zusammengehalten und dazu noch einen grossen Krieg gewonnen. Putin baut nicht die Sowjetunion wieder auf, sondern ein Reich, das seinem Wunsch entspricht, «Russland wieder gross zu machen». Unausgesprochen lautet sein Motto: «Unsere strahlende Zukunft ist unsere dunkle Vergangenheit.» Der messianische Traum eines wiederauferstandenen Reiches kommt im «Eisen» eines beinah totalitären Regimes verpackt daher.
Die Agonie des imperialen Körpers
Man kann darin eine Ähnlichkeit mit der UdSSR erblicken, aber das trifft es nicht ganz: Was das Ausmass der politischen Unterdrückung angeht, geht Putins Regime bereits härter vor als das späte Sowjetregime, und selbst seine Sprache des Hasses erinnert eher an die Stalin-Ära als an die Ära der letzten Sowjetführer. Jemand hat das Wesen seiner Herrschaft mit dem Satz zusammengefasst: «Regieren wie Stalin, leben wie Abramowitsch» (sprich wie ein unglaublich reicher Oligarch).
Das sowjetische Imperium ist noch nicht völlig zusammengebrochen. Im Kampf um die Ukraine offenbart sich die Agonie des imperialen Körpers. Er zersetzt alle Überreste der Sowjetzeit: die Nostalgie für die angebliche Brüderlichkeit der Sowjetuntertanen, aber auch die Einheit, die aus dem gemeinsamen Sieg im «Grossen Vaterländischen Krieg» hervorgeht. Es gibt immer weniger Menschen, die in der Sowjetunion geboren wurden, und das bauliche Erbe der in der Sowjetzeit errichteten Infrastruktur verfällt. Putin, der den Verfall hinnimmt, erweist sich als antisowjetisch.
Die Degradierung des menschlichen Materials ist erschreckend. Die UdSSR verfolgte und unterdrückte abweichende Meinungen, aber das intellektuelle und moralische Niveau der gebildeten Kreise war hoch, die Intelligenzia übte die Herrschaft aus über Geist und Seele, man denke nur an Andrei Sacharow. Und jetzt aber haben wir es stattdessen mit Leuten wie dem Fernsehmoderator Wladimir Solowjow zu tun, der dazu aufruft, europäische Städte in Schutt und Asche zu legen. Die Sprecherin des Aussenministeriums Maria Sacharowa und der Politikwissenschafter Sergei Karaganow machen sich einen Sport daraus, den Westen zu verfluchen.
Das Fernsehen ist generell ein guter Massstab für den zivilisatorischen Niedergang Russlands: Man muss nur die heutigen «Experten» für internationale Angelegenheiten, die mit Aggressivität und Ignoranz auftrumpfen, mit den Analysten der späten Sowjetzeit vergleichen – das ganze Land sass damals vor dem TV, um sich eine Propagandasendung namens «Internationales Panorama» zu Gemüte zu führen, die in Wirklichkeit ein Fenster zur Welt war, moderiert von dem charmanten Alexander Bowin, dem einstigen Lieblingsredenschreiber Breschnews.
Feindin der Nation
Alla Pugatschowa, Inbegriff des Pop-Stars der siebziger und achtziger Jahre und Verkörperung des Zaubers russischer Weiblichkeit, ist trotz dem Generationswechsel immer noch im ganzen Land bekannt. Früher scherzte man: «Leonid Breschnew ist eine unbedeutende politische Figur in der Ära von Alla Pugatschowa.» Heute wird Pugatschowa als Feindin der Nation diffamiert, da sie den Krieg gegen die Ukraine verurteilt hat. Und dies darum so aggressiv, weil die Sängerin für viele immer noch eine moralische Autorität darstellt. Für ihre Feinde gilt Pugatschowa nicht zufällig als die wichtigste «ausländische Agentin».
Und dann gibt es noch die Rockmusiker, die in der Sowjetzeit Stars waren und es auch für neue Generationen geblieben sind – Boris Grebenschtschikow und Andrei Makarewitsch. Sie wurden im Gegensatz zu Pugatschowa für ihre kritische Haltung offiziell als «ausländische Agenten» gebrandmarkt.
Es gibt zahlreiche Versuche, die Kultur der UdSSR synthetisch nachzuahmen. Ein Präsidialdekret vom November 2022, in dem die «traditionellen spirituellen und moralischen Werte» des russischen Volkes aufgeführt sind, ersetzte den sogenannten Kodex des Erbauers des Kommunismus. Das beliebte spätsowjetische Lied «Meine Adresse ist die Sowjetunion» wurde durch das schrill-nationalistische «Ich bin Russe!» ersetzt. Die «neue historische Gemeinschaft – das sowjetische Volk» wurde durch die «staatsbildende Nation» ersetzt (auf diese Weise werden die Russen über andere ethnische Gruppen gestellt). Die Re-Stalinisierung nimmt weiter ihren Lauf: Die Opfer von Stalins Terror werden nun wieder diffamiert und ihre Erben aufgrund politischer Vorwürfe strafrechtlich verfolgt.
Die liberale Intelligenz, die sich in den Moskauer Küchen versammelt, wie sie es vor einem halben Jahrhundert tat, erinnert sich nostalgisch an die späte Sowjetunion: eine weit bessere Zeit als heute. Damals strebten alle nach Veränderung und verstanden, welche Art von Veränderung sie wollten. Die intellektuellen Berater der Machthaber unterschieden sich in dieser Hinsicht nicht von der liberalen Intelligenz – sie waren Teil davon und halfen mit, dass Theaterstücke, Filme und Bücher durch die Zensur schlüpfen konnten.
Es ist unmöglich, sich die pseudointellektuelle Nomenklatura von heute in dieser Rolle vorzustellen: Sie alle sind Wächter des Regimes. Diese Elite hat keinen Sinn für die Zukunft, und sie tut nichts, um das Regime von innen heraus zu humanisieren. Einst waren intern sogar Polemiken möglich – zumindest bis zur Wende der siebziger Jahre, als Literaturzeitschriften, die orthodoxe, nationalistische und liberale Positionen vertraten, als «politische Parteien» fungierten.
Isolierter denn je
Seltsamerweise ist der Grad der Isolation heute grösser als zu Sowjetzeiten. Dies gilt sicherlich für die Bereiche Kunst, Wissenschaft und Bildung. Es gibt keinen Austausch von Wissenschaftern und Studenten mehr, keine hochkarätigen Ausstellungen wie «Paris-Moskau» und «Moskau-Paris».
Auch die diplomatischen Kanäle sind versiegt, was zur Sowjetzeit auch in schwierigen Phasen nie der Fall war. Der ständige, zumeist persönliche Kontakt zwischen dem sowjetischen Botschafter in den USA, Anatoli Dobrynin, und dem Berater für nationale Sicherheit und späteren Aussenminister Henry Kissinger trug dazu bei, Spannungen abzubauen. Involviert waren auch Spitzenbeamte von Ministerien.
All dies gibt es heute nicht mehr – die Kunst der Diplomatie, die auf der Basis von gutem Willen und von hoher Professionalität Verantwortung für das Schicksal der Welt übernimmt (das ist kein Pathos, sondern pragmatisch geübte Wirklichkeit), ist verlorengegangen.
Der Kreml wollte mit seiner ideologischen Zeitmaschine irgendwo in der Ära der Stagnation ankommen, landete aber im Spätstalinismus – der vielleicht einzigen Sowjetepoche, die in Bezug auf politische Grausamkeit mit dem heutigen System vergleichbar ist.
1956 kam es bei der Eröffnung einer Picasso-Ausstellung in Moskau zu einem riesigen Gedränge. Die Menge, die sich weniger für die Werke des Künstlers als für das Signal der Öffnung zur Welt interessierte, das diese Schau auch darstellte, wurde von der sowjetischen Schriftstellerlegende Ilja Ehrenburg, einem Liebhaber der französischen Kultur, beruhigt: «Ihr habt euch fünfundzwanzig Jahre nach diesem Moment gesehnt, wartet doch bitte noch fünfundzwanzig Minuten.»
Andrei Kolesnikow ist Journalist und Buchautor. Er lebt in Moskau, ist Kolumnist von «The New Times» und schreibt für die Online-Zeitung «Nowaja Gaseta». – Aus dem Englischen von A. Bn.