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  1. Seite 1″Selenskyj ist bereit, über Zugeständnisse nachzudenken“


  2. Seite 2″Europa beobachtet diesen Krieg aus der Distanz“

Mykola Kapitonenko ist Politikwissenschaftler am Institut für Internationale Beziehungen an der nationalen Taras-Schewtschenko-Universität in Kyjiw. Er ist dort Direktor des Zentrums für Studien internationaler Beziehungen.

DIE ZEIT: In diesen Tagen und Wochen wird so intensiv wie noch nie über ein Ende des russisch-ukrainischen Krieges verhandelt. Die Positionen Russlands und der Ukraine scheinen sich dennoch nicht anzunähern. Wie bewerten sie den Prozess?

Mykola Kapitonenko, 46 © privat

Mykola Kapitonenko: Auf den ersten Blick sieht es wirklich so aus, als würden sich alle Beteiligten im Kreis drehen. Ich glaube aber, dass die Chancen auf eine Einigung im Moment etwas höher sind als noch vor einigen Monaten. Als Donald Trump gerade erst an die Macht gekommen war, hatte ich die Erfolgschancen der Verhandlungen auf etwa 20 Prozent geschätzt. Jetzt aber würde ich die Chancen aus meiner sehr subjektiven Sicht auf etwa 40 Prozent schätzen.

ZEIT: Worauf stützt sich Ihre Einschätzung?

Kapitonenko: Die Verhandlungsrunde fällt in eine Zeit, in der die inneren und äußeren Probleme der Ukraine größer werden. Russlands Armee rückt immer weiter vor. Donald Trump hat in einer Sache recht: Die Verhandlungsmacht der Ukraine ist kleiner geworden. Und es gibt keine Anzeichen dafür, dass sie in den nächsten zwölf Monaten wieder größer wird. Die ukrainische Führung fängt an, das zu verinnerlichen. Und sie scheint zunehmend realistisch auf die Dinge zu schauen.

© Lea Dohle

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Daraus folgt ein Dilemma für Wolodymyr Selenskyj. Einerseits will er verhindern, dass das Ende des Krieges noch schlimmer ausfällt. Er ist deshalb zumindest bereit, über Zugeständnisse nachzudenken. Gleichzeitig will er sich die Möglichkeit offenhalten, nach dem Krieg Präsident der Ukraine zu bleiben. Das wiederum schränkt seinen Spielraum ein.

ZEIT: Hat der Korruptionsskandal den ukrainischen Präsidenten geschwächt? 

Kapitonenko: Der Skandal hat bestimmte politische Prozesse beschleunigt und den politischen Wettkampf in der Ukraine wieder deutlich sichtbar gemacht. Die Kritik am Präsidenten wird lauter. Selenskyj schaut immer genau auf seine Beliebtheitswerte. Und wenn diese sinken, schwächt das auch seine Verhandlungsposition.

ZEIT: Man hört oft, dass es der Ukraine bei diesen Gesprächen in erster Linie darum geht, Trump bei Laune zu halten. Welche Ziele verfolgen die ukrainischen Verhandler?

Kapitonenko: Selenskyj hat in diesem Jahr verstanden, dass er Trumps Sicht auf diesen Krieg nicht prinzipiell verändern kann. Auch wird es ihm nicht gelingen, die Unterstützung der USA auf das alte Niveau der Biden-Regierung zu heben. Die Ukraine versucht also das zu retten, was jetzt noch von der Unterstützung der USA übrig ist. Und natürlich, die Europäer als primären Partner stärker in die Pflicht zu nehmen. 

Doch darüber hinaus ist Selenskyj in einer wirklich schwierigen Lage. Ein siegreiches Ende des Krieges, wie es sich viele in der Ukraine noch 2022 oder 2023 vorgestellt hatten, scheint sehr unwahrscheinlich. Das gefällt Selenskyj natürlich nicht. Aber er kann das auch nicht mehr ignorieren.

ZEIT: Was folgt daraus?

Kapitonenko: Der Preis, den die Ukraine in diesem Krieg zahlt, ist enorm hoch: die Zerstörung, die kaputte Energieinfrastruktur, die getöteten Menschen. Das Problem ist jedoch: Niemand kann abschätzen, wann dieser Krieg wirklich reif ist, um beendet zu werden. In der jetzigen Lage ist die Frage aus ukrainischer Perspektive: Wann wird ein schlechter Frieden für die Regierenden zur attraktiveren Option – im Vergleich zur Fortsetzung der Kämpfe?

ZEIT: Ein schlechter Frieden war bereits auf dem Tisch – Trumps ursprünglicher 28-Punkte-Plan. In der Ukraine wurde er kritisiert und als Kapitulationserklärung bezeichnet.

Kapitonenko: Das ist verständlich, schließlich entspricht dieser Plan nicht den Erwartungen vieler Ukrainerinnen und Ukrainer an ein gerechtes Ende dieses Krieges. Das Problem ist aber nicht, dass der Plan schlecht war.

ZEIT: Sondern?

Kapitonenko: Man kann beliebig viele gute Pläne schreiben. Aber einem solchen Plan muss eben auch Russland zustimmen. Stand heute wird aber jeder realistische Vorschlag für ein Kriegsende Russland bevorteilen und deshalb für großen Unmut in der Ukraine sorgen. Es werden sich in jedem Fall Menschen finden, die einen solchen Plan als Kapitulation bezeichnen.