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Kinder spielen in der „Glückauf-Kampfbahn“ Fußball.Kinder spielen in der „Glückauf-Kampfbahn“ Fußball. © Theresa Stoll

Gelsenkirchen kämpft gegen Schrottimmobilien und organisierte Kriminalität. Die Stadt kauft Problemhäuser auf und schafft neue Perspektiven.

Der Regen hängt an diesem Tag schwer über Gelsenkirchen. Auf einem Fußballfeld an der „Glückauf-Kampfbahn“, dem alten Stadion des Fußballklubs Schalke 04 – jenem ummauerten Feld, das Jahrzehnte von Vereinsgeschichte gesehen hat –, jagen Kinder einem Ball hinterher. Der Rasen ist ramponiert, an vielen Stellen braun, doch die Kinder stört das nicht. Sie schreien sich zu, zwei Mannschaften, rennen von Linie zu Linie, als sei dies das wichtigste Spiel ihres Lebens.

Gleich daneben liegt ein neuer Sportplatz. Markus Töns, der SPD-Bundestagsabgeordnete Gelsenkirchens, zeigt ihn stolz – der Platz wurde gerade erst eröffnet. Der Kunstrasen glänzt noch frisch, die Markierungen wirken so weiß wie direkt nach dem Auftragen. Moderne Tore, daneben Klettergerüste, Basketballkörbe. Gegenüber erhebt sich die Grundschule der Kurt-Schumacher-Straße, modern und ein Prestigeprojekt der Stadt: hell, kantig, mit viel Glas. Auf seiner Sommertour hat auch Ministerpräsident Hendrik Wüst sie besucht.

Steckbrief

Der Wahlkreis 122 in Nordrhein-Westfalen umfasst die kreisfreie Stadt Gelsenkirchen. Sie liegt im Herzen des Ruhrgebiets, unweit von Essen und Bochum. Gelsenkirchen hat rund 265 000 Einwohner:innen, die in einem der 18 Stadtteile leben. Im Sommer 2025 feierte die Stadt ihr 150-jähriges Bestehen – mit einem viertägigen Stadtfest.

Wie viele Kommunen der Region war Gelsenkirchen jahrzehntelang stark von Kohle und Stahl abhängig. Mit der Schließung der Zeche Hugo im Jahr 2000 verlor die Stadt ihr letztes Bergwerk. Am Rand der Stadt gab es noch die Grube Westerholt, die 2008 ebenfalls geschlossen wurde. In der Stadt und der Region gingen dadurch viele Zehntausende Arbeitsplätze verloren.

Seit Gründung der Bundesrepublik galt Gelsenkirchen als Hochburg der SPD. Bei der Kommunalwahl im September 2025 gewann SPD-Kandidatin Andrea Henze mit 37,04 Prozent der Stimmen. Der AfD-Kandidat kam auf 29,75 Prozent, die CDU-Kandidatin auf 19,09 Prozent. In der Stichwahl setzte sich Henze mit 66,93 Prozent gegen den AfD-Kandidaten (33,07 Prozent) durch.

Bei der Ratswahl lag die SPD knapp vor der AfD. In drei Bezirksvertretungen – Gelsenkirchen Süd, West und Mitte – gewann die AfD, in Nord und Ost die SPD.

Heute lockt die Stadt mit touristischen Attraktionen wie ZOOM Erlebniswelt, Halde Rungenberg, Nordsternturm, Nordsternpark und Musiktheater im Revier.

Doch kaum verlässt man den Bereich rund um den Sportplatz, zeigt sich die andere Seite des Stadtteils. Schalke – so heißt das Viertel, nicht nur der Verein – gehört seit Jahren zu den Problem-Bezirken Gelsenkirchens.

Wer die Kurt-Schumacher-Straße in Richtung Innenstadt hinuntergeht, betritt die „Schalker Meile“ – flankiert von Vereinslokalen, alten Kneipen, blau-weißen Fußballwimpeln. Zwischen all dem plötzlich ein Haus, das wirkt, als sei es aus der Zeit gefallen: die Fassade fleckig, der Putz abgeplatzt. Vor den Fenstern sind Platten verschraubt. Die sogenannte „Engelsburg“, eine Problemimmobilie. Töns erzählt, dass das Gebäude inzwischen von der Stadt erworben wurde.

In der Straße hinter der „Engelsburg“ sieht es nicht anders aus. Manche Häuser sind bewohnt, andere stehen leer und sind verriegelt. Es sind diese Gebäude, die als „Schrottimmobilien“ bezeichnet werden. „Das sind teilweise Wohnräume, in denen bis zu elf Matratzen liegen – ohne Möbel und ohne funktionierende Sanitäranlagen“, sagt Karin Welge, bis vergangenen September Oberbürgermeisterin Gelsenkirchens. Viele Jahre lang beschäftigte sie sich mit diesen Häusern. Die Stadt hat mehrere Problem-Immobilien aufgekauft, einige abgerissen. An ihrer Stelle entstehen nun neue Flächen für Schulen und Sport, ein Anbau der Grundschule der Kurt-Schumacher-Straße und eine neue Turnhalle. Man versucht, das Viertel aufzuwerten.

Bei seinem Besuch sagte Ministerpräsident Wüst: „Gelsenkirchen zeigt, wie mutige Stadtentwicklung aussehen kann. Wo Problemimmobilien das Stadtbild belastet und Lebensqualität eingeschränkt haben, entsteht jetzt neuer Raum für Bildung, Bewegung und Begegnung.“

Welge erzählt, dass die Schrottimmobilien häufig von Kriminellen aufgekauft werden, die Menschen aus Rumänien und Bulgarien nach Gelsenkirchen holen und sie in diesen Wohnungen unterbringen. Es gebe Arbeitsverträge für wenige Stunden, die ergänzende Leistungen ermöglichen. „Den Großteil kassierten in vielen Fällen die Hintermänner“, so Welge.

Die Zeche „Nordstern“ ist seit 1982 außer Betrieb.Die Zeche „Nordstern“ ist seit 1982 außer Betrieb. © Theresa StollFalsche Versprechen für Zugewanderte

Bärbel Bas, die SPD-Bundesarbeitsministerin, sprach Ende Oktober auf einer Konferenz in Duisburg über den Missbrauch von Sozialleistungen, insbesondere durch Zugewanderte aus Südosteuropa. Die Sozialdemokratin, die gerade eine Neuregelung von Sozialleistungen mit verschärften Sanktionsmechanismen umsetzt, forderte schärfere Kontrollen, eine Wiedereinreisesperre bei Missbrauch und einen verstärkten Austausch von Daten zwischen Behörden – vom Jobcenter bis zur Polizei.

Viele der Menschen, die in den brüchigen Häusern landen, kommen mit großen Erwartungen. „Es seien meist arme Menschen“, sagt Anke Schürmann-Rupp, Leiterin des Jobcenters Gelsenkirchen. „Vor Ort erleben sie dann oft etwas ganz anderes.“ Die Wohnungen sind oft überfüllt, unhygienisch, manchmal sogar gefährlich.

Viele Menschen kämen mit zahlreichen Kindern. Schon ein schulpflichtiges Kind reiche aus, um Aufenthalt und Leistungen zu erhalten. Die Menschen kamen vor allem nach dem EU-Beitritt Bulgariens und Rumäniens. Einige Zugewanderte fänden nach ihrer Ankunft schnell Arbeit, sagt Karin Welge. „Aber einige kommen ohne Schulbildung, manche sind Analphabeten. Für sie gibt es kaum Arbeitsmarkt-Chancen.“

Es sei schwierig und aufwendig, Kriminellen auf die Spur zu kommen, erzählt Schürmann-Rupp. Seit mehr als zehn Jahren gebe es das Interventionsteam EU-Südost, ein Bündnis von Jobcenter, Stadt, Polizei und weiteren Behörden. Die Mitarbeitenden kontrollieren regelmäßig bestimmte Häuser. Nicht selten stoßen sie auf überbelegte Wohnungen oder auf Angaben, die sich nicht mit der Realität vor Ort decken. „Unzählige wurden so bereits abgemeldet.“

Parallel führt die Stadt digitale, fälschungssichere Schulbescheinigungen ein, um Kindergeldbetrug zu bekämpfen. Es gibt Strafverfahren, Leistungsminderungen – allerdings dauere alles „im Moment noch sehr lange“, so Schürmann-Rupp. Und sie warnt: „Ich finde es schwierig und gefährlich, die Bürgergeldempfänger unter Generalverdacht zu stellen.“ Viele seien selbst Opfer der Kriminellen.

Gelsenkirchen kämpft seit Jahrzehnten gegen Belastungen, die weit über den kommunalen Handlungsspielraum hinausgehen. Die Stadt verlor mit der Grube Hugo im Jahr 2000 ihre letzte große Zeche. Ein ganzer Industriezweig, jahrzehntelang die ökonomische Grundlage der Region, verschwand. Mit ihm gingen Zehntausende Arbeitsplätze verloren. Die Hälfte der Jobs sei nicht ersetzt worden, rund 30 Prozent der Bevölkerung abgewandert, sagt Welge. Schulen, Straßen, ganze Viertel bräuchten Investitionen, die nicht zu stemmen seien. „Das führt zu einem Infrastrukturstau, der uns einholt.“

Hinzu kommen Insolvenzen von Betrieben, sagt Schürmann-Rupp vom Jobcenter. In einigen Vierteln ziehen Menschen weg, lassen Wohnungen zurück, die dann verfallen. Andere Häuser werden gekauft, aber nicht saniert. Die Folge sind Straßen, in denen sich Verwahrlosung ausbreitet. „Die Gefahr besteht, dass Wohnraum und Viertel verrotten – das macht was mit der Attraktivität einer Stadt, mit Nachbarschaften, mit dem Zusammenhalt“, sagt Welge. Gelsenkirchen ist heute eine der ärmsten Städte Deutschlands. Im Jahresdurchschnitt 2024 lag die Arbeitslosenquote bei 14,8 Prozent – landesweit die höchste. Im November 2025 betrug sie 15,1 Prozent. Für viele Menschen bedeutet das: weniger Kaufkraft, weniger Perspektive.

„Wenn man eine Region wie das nördliche Ruhrgebiet immer vernachlässigt – mindestens in den letzten zehn Jahren –, dann entsteht eine Abwendung von der Politik“, sagt Töns. Bei der Bundestagswahl im Februar erreichte die AfD in Gelsenkirchen fast 25 Prozent, beinahe doppelt so viel wie 2021. Neben dem Wahlkreis Duisburg II ist das ein Rekord für Nordrhein-Westfalen. Etwa jede vierte wahlberechtigte Person stimmte für die Rechtsaußen-Partei. Heißt aber auch: Mehr als 70 Prozent entschieden sich für andere Parteien.

Gleichzeitig sind die Kommunen durch die EU-Freizügigkeit unterschiedlich betroffen. „Die meisten Menschen, die aus der EU zu uns kommen, tragen zum Wohlstand in Deutschland bei – die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist also nicht das Problem. Aber das ganze Land muss den wenigen Hotspots, wo das nicht funktioniert, helfen“, meint Töns. Auch Überlegungen, aufstockende Leistungen an eine höhere Mindeststundenzahl zu knüpfen, findet er richtig. So auch Schürmann-Rupp: „Die Politik sollte vielleicht darüber nachdenken, inwieweit es richtig ist, dass ein Minijob für den Bezug von Transferleistungen ausreicht oder ob die Stunden nicht aufgestockt werden sollten.“

Zur Serie

In Deutschland gibt es 299 Bundestagswahlkreise. So vielfältig die Menschen vor Ort, so unterschiedlich sind die Probleme und Potenziale. Eines haben viele Regionen aber gemeinsam: Was konkret dort passiert, ist außerhalb kaum bekannt. Und das, obwohl genau dort der Kampf um die Demokratie geführt wird.

Die Frankfurter Rundschau hat daher exemplarisch 15 Bundestagswahlkreise ausgewählt. Wir sehen uns vor Ort um und fragen die Menschen: Was bewegt sie, welche Probleme drängen am meisten? Und kommt die Berliner Politik bei ihnen an? Heute: Gelsenkirchen.

Bisher erschienen sind Reportagen aus:

dem bayerischen Wahlkreis Hof (299) über deren anhaltende Bahn-Probleme.

der zugehörigen Kommune Wunsiedel und deren lange Geschichte im Kampf gegen rechts.

dem Sauerland, wo die Windkraft-Boom Gemeinden spaltet.

dem „Politiklabor“ Mannheim, wo die SPD sich für die Zukunft wappnen will.

dem von maroder Infrastruktur geplagtem Magdeburg

dem nur scheinbar idyllischen Freiburg FR

Stadt ist an vielen Stellen überfordert

Gelsenkirchen ist an vielen Stellen überfordert. „Es macht einen Unterschied, ob die Eltern eines Kindes nie in der Schule waren oder ob beide Akademiker sind – Finanzsysteme müssen das abbilden“, sagt Welge. Sie fordert eine Neuordnung der Kommunalfinanzen, die besondere Bedarfe stärker berücksichtigen. Bei der vergangenen Kommunalwahl trat Welge im September 2025 nicht mehr an. Die Kraft für eine weitere Amtszeit, sagt sie, habe ihr gefehlt.

Währenddessen setzte die AfD im Wahlkampf auf hart formulierte Parolen: „Polizei stärken. Clans stoppen.“ Ihr Kandidat Norbert Emmerich, ein 72-Jähriger mit weißem Haar und weißem Schnurrbart, gab sich betont harmlos. Emmerich erreichte die Stichwahl, doch gewonnen hat schließlich SPD-Kandidatin Andrea Henze – unterstützt von den Grünen. Die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten verteidigten ihr Revier, zumindest vorerst. Ein dauerhaftes Aufatmen erlaubt das aber nicht. Viele Menschen im Ruhrgebiet zweifeln daran, dass die früheren Volksparteien die wirtschaftliche Wende schaffen.

Am 10. Dezember wurde AfD-Mann Emmerich zum stellvertretenden Bürgermeister gewählt – eine Entscheidung, die viele im Gelsenkirchener Stadtrat überraschte. SPD und CDU hatten sich zusammengeschlossen, um ihn auszuschließen, doch die geheime Abstimmung brachte ihm drei zusätzliche Stimmen, woher diese kamen ist unklar. Mit 23 Stimmen setzte sich der AfD-Politiker gegen die Kandidaten der Volksparteien durch. Das Amt verschafft dem Rechten politische Sichtbarkeit und Einfluss auf Verwaltung und Beschlüsse, obwohl seine Partei im Rat noch immer nur wenige Stimmen hält.

Zurück zum neuen Sportplatz „auf“ Schalke: Der Regen hat sich nach ein paar Stunden verzogen. Jugendliche kicken zwischen den Toren, immer wieder mischen sich jüngere Kinder dazu. Verschiedene Altersgruppen, verschiedene Sprachen. Für einen kurzen Moment wirkt die Stadt leicht. Die Probleme verschwinden nicht – weder die Armut noch die Schrottimmobilien, weder der leergefegte Arbeitsmarkt noch die politische Spaltung. Aber auf diesem Platz zeigt sich, was möglich bleibt: Gemeinschaft. Ein Bild davon, wie diese Stadt trotz aller Belastungen funktionieren kann.