Sieben Jahrzehnte lang fühlte sich Europa unter dem Schutzschirm der Amerikaner sicher. Ein Arrangement, von dem auch die USA profitierten. In dieser Woche ist eine historische Anomalie zu Ende gegangen. Europa muss seine Prioritäten nun dramatisch verändern.

Die Trump-Regierung ist nicht einmal ein Jahr im Amt, und dennoch fühlt es sich für viele Europäer jetzt schon an wie ein Alptraum, der nicht enden will. In den vergangenen Wochen waren es die deutlich prorussischen Positionen, die Washington bei den Verhandlungen zur Beendigung des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine eingenommen hat, die die Regierungen auf dem Kontinent verschreckten. In dieser Woche kam nun die neue Nationale Sicherheitsstrategie (NSS) der USA hinzu, die deutlich europafeindliche Züge trägt.

Die Grundzüge der NSS waren dabei zunächst wenig überraschend. Die USA wollen sich in Zukunft auf die Konkurrenz mit China und die Dominanz im eigenen Hinterhof, der „westlichen Hemisphäre“, konzentrieren und ihr Engagement in anderen Regionen deutlich zurückfahren.

„Unsere Eliten sind einer groben Fehlkalkulation erlegen, was Amerikas Bereitschaft anbelangt, für immer globale Lasten zu schultern, bei denen das amerikanische Volk keinen Zusammenhang sah zum nationalen Interesse“, heißt es in der NSS. „Sie haben Verbündeten und Partnern erlaubt, die Kosten ihrer Verteidigung beim amerikanischen Volk abzuladen.“

Das wäre nur das alte und durchaus verständliche Lied davon, dass Amerikas Verbündete mehr tun müssen für die eigene Sicherheit. Doch der Teil über Europa enthielt eine Ansammlung von Klischees, die direkt der Kulturkampfpropaganda der MAGA-Bewegung zu entspringen schienen. Der Kontinent sei nicht nur wirtschaftlich im Niedergang, sondern auch dabei, die eigene Zivilisation „auszulöschen“. Die Probleme Europas seien „transnationale Organisationen wie die EU, die politische Freiheit und Souveränität untergraben, Migrationspolitiken, die den Kontinent umformen und für Konflikte sorgen, die Zensur der Meinungsfreiheit und die Unterdrückung politischer Opposition, die einbrechenden Geburtenraten und der Verlust von nationalen Identitäten und Selbstvertrauen“.

Wegen der Einwanderungspolitik würden einige Nato-Mitglieder in einigen Jahrzehnten mehrheitlich nicht europäisch sein. „Das ist die erste nationale Sicherheitsstrategie der MAGA-Bewegung. Anstatt gegen Xi oder Putin richtet sich die größte Kritik dieses Dokuments gegen die globalistischen Eliten in den USA und insbesondere in Europa“, sagt Rebecca Lissner, die 2022 die Nationale Sicherheitsstrategie der Biden-Regierung mitverfasste.

Im Ukraine-Krieg stellt die neue Doktrin die Anführer Europas als Gegner der US-Friedensbemühungen dar, die dem Wunsch ihrer Bürger nach Frieden nicht nachkommen und den demokratischen Prozess unterlaufen würden. Im Klartext heißt das: Wer sich russlandfreundlichen Friedensbedingungen widersetzt, ist ein Kriegstreiber und Undemokrat.

Die Trump-Regierung will laut NSS weiterhin „patriotische europäische Parteien“ – sprich die populistische Rechte – unterstützen und den Eindruck bekämpfen, die Nato sei eine sich stets ausdehnende Allianz. Kein Wunder, dass der Kreml die neue Sicherheitsstrategie ausdrücklich begrüßte.

Eine historische Anomalie geht zu Ende

Viele Experten sahen darin nicht nur ein weiteres Zeichen, dass Washington im Ukraine-Krieg die Seiten gewechselt hat, sondern auch, dass die US-Regierung an einer Destabilisierung Europas interessiert ist. Erhärtet wird die antieuropäische Lesart durch einen Bericht von „Defense One“ über eine erweiterte, nicht publizierte Version des Dokuments. Dort werden Staaten wie Österreich, Ungarn, Italien und Polen angeführt als Länder, mit denen die USA „intensiver zusammenarbeiten sollten“, um sie aus der EU wegzuziehen.

Die EU zu schwächen und womöglich zu spalten, scheint das Ziel zu sein. Schließlich war die wirtschaftliche Macht der EU Trump schon in seiner ersten Amtszeit ein Dorn im Auge. Eine Spaltung würde es den USA ermöglichen, einzelne und damit schwächere europäische Staaten zu weiteren Zugeständnissen etwa in Handelsfragen zu zwingen.

„Von der Rede von Vizepräsident J.D. Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar, die Europa herabwürdigte, bis zur neuen Nationalen Sicherheitsstrategie, zeigt die Trump-Regierung eine klare und konsistente Vision von Europa: eine, die die russisch-amerikanischen Beziehungen priorisiert und versucht, gegenüber dem Kontinent eine Teile-und-Herrsche-Strategie zu verfolgen, wobei ein großer Teil der Drecksarbeit von Nationalisten und rechtsradikalen Kräften in Europa durchgeführt wird, die jetzt gleichermaßen von Moskau wie Washington unterstützt werden“, schreibt die italienische Außenpolitikexpertin Nathalie Tocci in „Foreign Policy“.

Es sei „höchste Zeit für den Kontinent, zu realisieren, dass er im besten Fall allein ist, wenn es um den russisch-ukrainischen Krieg geht und die Sicherheit des Kontinents. Und im schlimmsten Fall steht Europa nun zwei Gegnern gegenüber, Russland im Osten und Trumps Vereinigten Staaten im Westen.“

Tatsächlich geht nun eine historische Anomalie zu Ende. Sieben Jahrzehnte hatten die USA die Rolle eines wohlwollenden Hegemons in Europa eingenommen. Sie unterstützten den europäischen Einigungsprozess, weil sie ein Interesse daran hatten, diese volatile Region, die den Globus in zwei Weltkriege gestürzt hatte, zu stabilisieren und einen Raum der Freiheit abzusichern gegen die sowjetische Diktatur. Amerika baute mit seinen westlichen Verbündeten so ein Imperium, das auf Zustimmung beruhte und nicht auf Zwang.

Es breitete seinen Schutzschild aus über Europa, erlaubte den Europäern aber gleichzeitig, in marktwirtschaftliche Konkurrenz mit den USA zu treten und dort auf Augenhöhe zu agieren, anstatt ein wirtschaftliches Ausbeutungsverhältnis zu schaffen wie frühere Imperien. Dieses Arrangement macht Europa nun besonders verletzlich gegenüber Trump. Dieser glaubt nicht mehr an den Segen des Freihandels. Und er sieht die militärische Schwäche des Kontinents als Mittel, um die wirtschaftliche Stärke der EU auszuhebeln und unfaire Handelsvorteile für die USA zu erzielen.

Amerika verabschiedet sich von der multilateralen Ordnung

Trump „scheint der Idee anzuhängen, dass Allianzen nicht Pfeiler eines Netzwerks sind, das allen nützt, sondern eher Elemente einer Schutzgeldmafia – und dass es höchste Zeit ist für die USA, die Profite zu ernten“, schreiben die Politikwissenschaftler Robert Kelly und Paul Poast in „Foreign Affairs“. Je schwächer und zersplitterter Europa ist, desto mehr kann er herausholen. „Die Zeit der Sicherheitsgarantie ist vorbei“, meint auch der CDU-Außenpolitikexperte Roderich Kiesewetter. „Wir werden von Washington mittlerweile eher wie ein lästiger Klientelstaat behandelt, der Tribut zahlen soll, oder wie ein wirtschaftlicher Gegner, den man kleinhalten muss.“

Tatsächlich markiert Trumps Sicherheitsstrategie den Abschied von Amerika als Garant einer multilateralen Ordnung gleichberechtigter Staaten und den Weg in eine Welt der Machtpolitik, in der sich die Großmächte den Globus in Einflusssphären aufteilen. „Der überragende Einfluss von größeren, reicheren und stärkeren Nationen ist eine zeitlose Wahrheit der internationalen Beziehungen“, heißt es in der NSS. In der unveröffentlichten Version wird auch die Gründung einer Gruppe von Staaten (C 5) vorgeschlagen, die künftig die Weltgeschicke bestimmen soll: die USA, China, Russland, Japan und Indien.

In dieser Welt der Großmächte reklamiert Trump die beiden Amerikas als alleinige Einflusszone der USA. Er reaktiviert dazu die Monroe-Doktrin von 1823, nach der alle Einflüsse fremder Großmächte herausgehalten oder zurückgedrängt werden müssen aus dem Doppelkontingent. Sein Anspruch auf das dänische Grönland entspringt genau diesem Denken.

Für Europa bedeutet das, dass die Großmächte Russland und die USA ihre jeweiligen Einflusszonen auf dem alten Kontinent untereinander abstecken, ohne viel Mitsprache europäischer Nationen oder der Länder im „nahen Ausland“ Russlands wie etwa die Ukraine. In der NSS ist verbrämt die Rede davon, man müsse „wieder strategische Stabilität mit Russland herstellen“.

Manche Transatlantiker meinen, dass es schon nicht so schlimm kommen werde für Europa. „Ich teile die großen Sorgen, aber nicht die dramatischen Schlussfolgerungen“, sagt etwa Wolfgang Ischinger, langjähriger Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz. „Die USA brauchen uns fast genauso, wie wir die USA brauchen.“

Amerikaner befürworten Waffen für die Ukraine

Andere verweisen darauf, dass eine deutliche Mehrheit der Amerikaner weder die prorussische Ukraine-Politik der Trump-Regierung teilt noch deren Abneigung gegen die Nato. Laut einer jüngsten Umfrage des Reagan Institutes ist die Beliebtheit der Nato unter den Amerikanern im vergangenen Jahr weiter gestiegen. Auch die Zahl derjenigen, die für US-Waffenlieferungen an die Ukraine sind, hat deutlich zugenommen auf 64 Prozent.

Eine große Mehrheit der Amerikaner sieht auch weiterhin Russland als größten Feind. Und auch der US-Kongress versucht einzuschreiten: So limitiert das gerade vom Abgeordnetenhaus verabschiedete Verteidigungsbudget Trumps Spielraum für Truppenreduzierungen in Europa.

Am Ende ist es aber der Präsident, der die Leitlinien der Außenpolitik bestimmt. Und der hat auch in dieser Woche wieder Breitseiten gegen Europa abgefeuert, etwa in einem Interview mit „Politico“, in dem er Europas Anführer als „schwach“ bezeichnete.

Das scheint genau das Problem zu sein: In einer Welt der Raubtiere, die von den Großmächten dominiert wird, ist der Eindruck von Schwäche, den Europa abliefert, fatal. Jetzt rächt sich möglicherweise, dass die EU-Kommission im Zollstreit mit den USA ein unfaires Abkommen akzeptiert hat und Nato-Generalsekretär Mark Rutte sich so liebedienerisch gegenüber Trump verhielt. Das scheint den Eindruck europäischer Schwäche, die sich ausnutzen lässt, in Washington nur verstärkt zu haben.

Einerseits satt und reich zu sein und andererseits nur bedingt verteidigungsfähig – in früheren Jahrhunderten wäre solch ein Staatengebilde eine Einladung für Eroberer gewesen, sich ein Stück abzuschneiden von der fetten Beute. Bisher schützten die USA Nato-Europa vor dem Zugriff des russischen Raubtiers. Nun wird Trumps Amerika selbst zum Raubtier. Europa ist deshalb gezwungen, seine wirtschaftliche Stärke nun auch in eine adäquate militärische Macht umzuwandeln, wenn es in der neuen Welt bestehen will.

Kaum jemand bezweifelt, dass Europa mindestens das Potenzial hat, auch militärisch zu einer eigenständigen Großmacht aufzusteigen. Die Frage ist hingegen, ob die Europäer und ihre politischen Eliten auch bereit sind, ihre Prioritäten so dramatisch zu verändern, wie es notwendig wäre, um Europa zu einem Player zu verwandeln, der Russland, den USA und China ebenbürtig ist. Ob die alten europäischen Knochen also noch genug Willenskraft aufbringen, ihre eigene Geschichte zu schreiben – oder ob sie sich damit abfinden, sie von anderen schreiben zu lassen.

Clemens Wergin ist seit 2020 Chefkorrespondent Außenpolitik von WELT. Er berichtet vorwiegend über den Ukraine-Krieg, den Nahen Osten und die USA.

Stefanie Bolzen berichtet für WELT seit 2023 als US-Korrespondentin aus Washington, D.C. Zuvor war sie Korrespondentin in London und Brüssel.

Dieser Artikel stammt aus der Guest Edition der WELT AM SONNTAG von Andreas Gursky, einem der berühmtesten Fotografen der Welt. Sie können dieses einzigartige Sammlerstück hier bestellen.