Langsam, aber kontinuierlich rückt Russland in der Ukraine vor. Kiew hat zweifellos Probleme. Doch wie gravierend sind diese wirklich? Steht das angegriffene Land kurz vor einer Niederlage?
Seit über einem Jahr versucht die russische Armee, die Stadt Pokrowsk im Donbass einzunehmen. Mittlerweile sind die Russen so weit vorgedrungen, dass es den verbliebenen ukrainischen Truppen kaum noch gelingt, die Invasoren abzuwehren. Für Russlands Machthaber Wladimir Putin ist diese Nachricht von großem Wert, denn ihm fehlte bislang eine Erfolgsmeldung zum Abschluss der Sommeroffensive. Die Einnahme der lang umkämpften Stadt wird von der staatlichen Propaganda-Maschine intensiv ausgeschlachtet.
Wichtiger im Informationskrieg Putins sind jedoch die Adressaten außerhalb Russlands – insbesondere die westlichen Unterstützer der Ukraine. Die Meldungen aus Pokrowsk stützen das Narrativ, dass „Russlands Sieg unvermeidbar sei und die Russen nicht aufzuhalten sind“, erklärt der Militärexperte George Barros, Leiter des Analysezentrums Ukraine am US-Institute for the Study of War (ISW). „Die Russen werden, egal wie, immer weiter voranschreiten. Diesen Eindruck will der Kreml vermitteln.“
Will der Westen die Realität nicht wahrhaben?
In den laufenden Verhandlungen über einen Waffenstillstand ist entscheidend, wie viel Vertrauen die westlichen Unterstützer noch in die militärischen Fähigkeiten der Ukraine setzen. Lohnt es sich, weitere Gelder oder womöglich die eingefrorenen russischen Milliarden bereitzustellen? Oder ist die Schlacht bereits verloren, doch der Westen will es noch nicht eingestehen?
Der Kreml versucht, diesen Eindruck zu verbreiten, um die Unterstützer der Ukraine zu verunsichern und zu spalten. „Das ist eine ziemlich ausgeklügelte Operation im Informationskrieg“, so Barros. Strategisch ist die Einnahme der Stadt jedoch unbedeutend. Zwar war Pokrowsk lange ein wichtiges Logistik-Drehkreuz im Donbass, da es an einer Bahnstrecke und einer Autobahn liegt. Diese Nachschublinien wurden jedoch bereits im Juni von den Russen unterbrochen. Vor einem halben Jahr erreichte die russische Armee ihr strategisches Ziel im Raum Pokrowsk, der Rest dient vor allem der Propaganda.
Wie aber steht es um die Kräfte der Ukraine? Kann sie sich noch verteidigen oder droht im vierten Kriegswinter der Zusammenbruch?
In einem Abnutzungskrieg leiden beide Seiten, wobei Moskaus Ressourcen umfangreicher sind als die Kiews. Der ukrainische Generalstab könnte seine Ressourcen allerdings strategisch klüger einsetzen – wenn man ihn ließe. Hindernisse sind politische Vorgaben, die bislang vom Präsidialamt kamen. „Andrij Jermak hat festgelegt: Kein Rückzug ohne Urne“, erklärt der österreichische Politologe und Ukraine-Experte Gustav Gressel. Das bedeutete bisher, dass keine taktischen Rückzüge auf bessere, hintere Linien erlaubt waren. Die Truppen mussten um jeden Quadratmeter bis zum letzten Moment kämpfen. „Wenn aber nur dafür Versorgungswege offen gehalten werden müssen und Reserven an strategisch wichtigeren Orten fehlen, ist das ineffizient“, analysiert Gressel.
Jermak steht seit Kurzem wegen des Verdachts der Verstrickung in einen Korruptionsskandal nicht mehr an der Spitze des Präsidialamts. Ein Nachfolger könnte die Vorgaben für die Truppen lockern oder einen anderen Befehlshaber für die Streitkräfte einsetzen. Olexandr Sirskyj gilt ebenfalls als wenig pragmatischer Hardliner. In dieser Hinsicht könnte der Korruptionsskandal innerhalb des Kiewer Regierungsapparats tatsächlich einen positiven Effekt haben, falls die Erneuerung an der Spitze des Präsidialamts auch auf die Armee durchschlägt.
Derzeit wirken sich die bisherigen Strategien noch aus – im Fall der Region Pokrowsk fatal für die Streitkräfte. Die Ukrainer halten noch immer den nördlichsten Teil der Stadt, vor allem um die letzten Versorgungswege in den Nachbarort Myrnohrad offen zu halten, der selbst von Einkesselung bedroht ist. „Aus Myrnohrad können Verwundete bereits nicht mehr evakuiert werden, da die Russen mit Drohnen die Nachschubwege kontrollieren“, sagt Gressel. Hätte der Generalstab den gesamten Kessel vor drei Wochen aufgegeben, hätte er den Truppen vor Ort diese Situation erspart. „Jetzt verlieren die Luftlandetruppen, die dort eingesetzt sind, wahrscheinlich viele Soldaten.“ Gressel schätzt die kommenden Verluste auf rund 5000 – hauptsächlich Freiwillige und Elite-Infanterie.
Für Saporischschja wird es kritisch
Der erbitterte Kampf um Pokrowsk wirkt sich auch auf andere Frontabschnitte aus. In der Oblast Saporischschja fehlten die Kräfte, die im Donezk gebunden waren. Die Russen nutzten dies und rückten seit September mit deutlich mehr Tempo vor. Am Tag wurden zwischen zwei und fünf Kilometer Geländegewinn erzielt. Der Vormarsch hält an, hat sich jedoch etwas verlangsamt. Die Stadt selbst ist noch etwa 50 Kilometer von der Front entfernt und bislang von Gleitbomben- und Drohnenangriffen weitgehend verschont. Mit weiterem Vorrücken könnte sich die Lage jedoch drastisch verschärfen, zumal die Front von Süden und Osten näher rückt.
Die Russen üben an allen Frontabschnitten weiterhin Druck aus, doch das bedeutet nicht, dass sie im neuen Jahr direkt auf Kiew marschieren. Im Hinterland gibt es noch gut ausgebaute ukrainische Verteidigungslinien, allerdings mangelt es oft an Streitkräften, um diese effektiv zu sichern. Es fehlt an Infanterie, was ein ernsthaftes Problem darstellt. Eine Änderung der Vorgaben könnte die Personalsituation auch in den hinteren Linien verbessern. Wenn nicht mehr verbissen um jeden Meter Boden gekämpft werden muss, werden Kräfte für andere Einsätze frei.
In Bezug auf die Drohnenproduktion sind die Ukrainer inzwischen gut aufgestellt. Es hapert jedoch an Möglichkeiten, russische Ziele in Entfernungen zwischen 30 und 300 Kilometern empfindlich zu treffen. Dort hat die Kreml-Armee ihre Fliegerabwehr konzentriert, so dass langsame Drohnen kaum Chancen haben, diesen Abwehrgürtel unbeschadet zu überfliegen. Wäre das möglich, könnten die Ukrainer noch häufiger erfolgreiche Angriffe auf russische Infrastruktur melden.
Gressel sieht auch eine Schwäche in der Führungskultur der ukrainischen Truppen, die noch stark an alte sowjetische Befehlsstrukturen angelehnt ist. Hier könnten die westlichen Unterstützer seiner Ansicht nach kurzfristig mehr helfen als mit schweren Waffen. Diese hätten bereits vor Monaten oder Jahren bestellt werden müssen. Was jetzt an der Front an Artilleriesystemen und Panzern ausfällt, kann nicht schnell genug ersetzt werden.
„Damit sind die Ukrainer überfordert“
In der Kriegsführung steckt aber noch Potenzial. „Es heißt oft, der Drohnenkrieg sei so anders, dass die NATO den Ukrainern nichts mehr beibringen könne. Das trifft höchstens auf die taktische Ebene an der Front zu“, sagt Gressel. „Was Führungskultur, operative Planung auf Brigade- und Korps-Ebene sowie Ressourcenplanung betrifft, können wir der Ukraine noch viel vermitteln, weil dort solche Erfahrungen fehlen.“ Entsprechend gibt es viel Kritik aus den unteren Rängen an der operativen Führung. „Damit sind die Ukrainer überfordert.“
Auch die Russen machen noch Fehler, doch laut US-Experte Barros nicht mehr die gleichen „dummen Fehler wie vor drei Jahren“. Das bereitet dem ISW-Wissenschaftler Sorgen, besonders für die kommenden Monate. Denn in den bisherigen Kriegsjahren „2022, 2023 und 2024 hatten die Ukrainer ein sicheres Hinterland. Das ist vorbei.“ Die Russen attackieren die ukrainische Logistik nahe der Front mit kleinen FPV-Drohnen und weiter entfernt mit größeren Shahed-Drohnen. Zudem wurde eine Eliteeinheit, das sogenannte Rubikon-Kommando, eingerichtet, die Kampfdrohnen für präzise Schläge einsetzt. So geraten die Ukrainer zusätzlich unter Druck.
„Wir sehen hier, wie das operative Konzept der Russen inzwischen gereift ist. Es heißt nicht mehr: ‚Wir werfen jeden Monat neue Leute an die Front und erschöpfen die Ukrainer durch Masse.‘ Stattdessen gestalten sie zunächst das Schlachtfeld, indem sie monatelang intensiv die Logistik unterbinden. Dann zermürben sie die Ukrainer. Das ist eine sehr gefährliche neue Fähigkeit.“
Weder der Österreicher noch der Amerikaner sehen die Ukraine in den kommenden Monaten verlieren. Allerdings wachsen die Herausforderungen an der Front, während die ukrainische Armee nicht entsprechend mitwächst. Pragmatismus und entschlossene Entscheidungen der westlichen Partner werden notwendig sein, um das Land durch den Winter zu bringen – vorausgesetzt, es wird sich nicht bald auf einen Waffenstillstand geeinigt. Der Gipfel am kommenden Montag in Berlin könnte einen Vorentscheid bringen.
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