Gnocchi hat der Koch an diesem Vormittag zubereitet. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko
Im Café 72 in Bad Cannstatt gibt es einen Mittagstisch für Bedürftige. Viele von ihnen leben auf der Straße. Als der Herd schlapp macht, ist die Aktion Weihnachten gefragt.
Es ist ein Kommen und Gehen im Café 72 an diesem Mittwochvormittag. An den Tischen sitzen viele Männer und einige Frauen, denen man ihr hartes Leben ansieht. Ihre Kleidung ist abgetragen, teils verschlissen. Sie trinken heißen Kaffee, wärmen sich auf nach der Nacht. „Um 8 Uhr stehen sie schon vor der Tür“, erzählt die Sozialpädagogin und Krankenschwester Linda Wurfer.
Fünfeinhalb Stunden hat das Café 72 geöffnet, das ein Frühstück und für einen Euro ein frisch gekochtes Mittagessen anbietet. In großen Töpfen blubbert seit dem Morgen die Soße für die Gnocchi, die es diesmal gibt. Zum Glück kann sie blubbern, finden sie bei der Ambulanten Hilfe. Der alte Großküchenherd hatte den Geist aufgegeben – den neuen hat die Spendenaktion Aktion Weihnachten pünktlich vor Beginn der kalten Saison finanziert.
30 bis 40 Essen pro Tag
Bis vor einigen Jahren haben die Klienten der Anlaufstelle der Ambulanten Hilfe für Wohnungslose und von Wohnungslosigkeit Bedrohten selbst gekocht. Bis das nicht mehr funktionierte. Die Menschen, die heute zu ihnen kämen, seien so belastet, dass sie dazu gar nicht in der Lage wären, sagt Linda Wurfer.
Entsprechend froh sind sie bei der Ambulanten Hilfe gewesen, eine Hauswirtschaftskraft beschäftigen zu können. Der Koch bereitet 30 bis 40 Essen pro Tag zu. Zumindest noch – die Stelle ist befristet und Stand jetzt von den Haushaltskürzungen betroffen. Wie das in Zukunft laufen soll? Ob die Sozialarbeiter dann auch das Kochen übernehmen müssen? Das fragen sie sich im Team, wo sie doch jetzt schon kaum hinterher kommen. Ständig will jemand etwas. Eben hat die Sozialpädagogin einen Streit geschlichtet, dann eine Waschmaschine befüllt, nun sortiert sie die Kleiderspenden. Eigentlich bräuchten sie Kleidung für Männer, vor allem robuste Jeanshosen. Doch das meiste, was sie aus den Tüten zieht, ist für Frauen.
Psychisch kranker Mann ist stolz, „keinen Cent vom Staat“ zu bekommen
Ihr Kollege Manuel Borrego Beltran hält im Büro die Stellung. Ihm gegenüber steht Herr N., der Aufmerksamkeit sucht. In anderen Einrichtungen hat der Obdachlose Hausverbot. Mit seiner unbehandelten Schizophrenie ist er herausfordernd. Er erzählt, dass er früher in einem der besseren Stadtbezirke gelebt habe, dass er sein Geld mit Fernsehwerbung verdient und sehr gut Tennis gespielt habe. Dass seine Partnerin gewalttätig gewesen sei. Ob das stimmt? Möglich. Ohne Punkt und Komma spricht Herr N., der ein altes Sakko trägt, ohne Socken in den Schuhen. „Ich gehöre gar nicht hierher“ betont er. Nur wegen des günstigen Essens komme er und schlafe auch jetzt bei der Kälte draußen. Er ist stolz darauf, „vom Staat keinen Cent“ zu nehmen.
Ein Wohnungsloser (links) durchsucht die Kleiderspenden. Manuel Borrego Beltran (rechts) gibt das Essen aus. Foto: Lichtgut//Kovalenko
80 Prozent der Menschen, die ins Café 72 kämen, seien nicht im Leistungsbezug, berichtet Linda Wurfer. Sie sind nicht krankenversichert, erhalten kein Bürgergeld. Psychisch Kranke wie Herr N. zählen dazu, Drogenabhängige, ehemalige Selbstständige, die aus dem System flogen, Zugewanderte aus EU-Staaten. Manche von diesen haben lange schwarz gearbeitet, bis etwas ihnen den Boden weggezogen hat. Andere waren legal tätig, aber zu kurz, um Anspruch auf Leistungen zu haben.
Wie Monika, eine dürre schwarz gekleidete Frau, die auch drinnen Sonnenbrille trägt. Die Zeitarbeitsfirma, für die sie am Band gearbeitet habe, habe ihr gekündigt, als sie krank wurde. Sie habe sich am Fuß verletzt, konnte nicht stehen. Ohne Job konnte sie die Miete nicht mehr bezahlen. Der Vermieter warf sie raus. Vier Jahre sei das her. So lange lebe sie schon auf der Straße, was „hart“ sei. Ins Café 72 kommt sie wegen der Duschen, der Waschmaschine – und wegen der Sozialarbeiter, die „sehr nett“ und „lieb“ seien. Dafür erduldet sie die schwierigen Besucher. „Manche sind sehr stressig, dabei können sie doch froh sein, dass es so etwas gibt.“
Es kommen immer mehr und immer mehr schwierige Menschen
Linda Wurfer und Manuel Borrego Beltran zweifeln nicht an dem, was sie tun. Was ihnen Sorgen macht: Es kämen immer mehr und immer schwierigere Menschen zu ihnen, die woanders nicht willkommen seien. „Psychotische und Hochalkoholisierte will sonst niemand haben“, sagt Beltran. Der ehemalige Streetworker kann mit psychisch Kranken umgehen, er hat schon in der Sozialpsychiatrie gearbeitet. Aber die Menge macht es schwerer. Die Zahl der Klienten habe sich verzehnfacht, schätzt er.
11.45 Uhr, es gibt Essen. Ein Mann mit beachtlichem Vollbart schiebt einen Euro rüber, bekommt seinen Teller, bedankt sich. Eine Rentnerin mit geschientem Fuß, auch sie ist wohnungslos, setzt sich an den nächstgelegenen Tisch. Ihr gegenüber sitzt Stefan, 72, der mit dem Vornamen angesprochen werden will. Der Rentner hat ein Dach über dem Kopf und kommt regelmäßig ins Café 72. „Das ist eine große Hilfe für mich, ich habe Kochen nie gelernt“, sagt er. Die Frau mit dem gebrochenen Fuß hat gar keine Kochmöglichkeit. Die 74-Jährige lebt den Winter über in einer Notunterkunft. Während sie isst – „sehr gut“ schmecke es – steckt ihre Wäsche in der Waschmaschine. Sie sei glücklich darüber, dass sie hier waschen könne. Bepackt mit zwei vollen Plastiktüten macht sie sich wenig später, gestützt auf ihre Krücken, auf den Weg. Sie wird wiederkommen. Für die nächste warme Mahlzeit.
So können Sie spenden
Spende
Unter diesem Link können Sie direkt und unkompliziert für die Benefizaktion Aktion Weihnachten spenden: www.stn-hilft.de. Wer selbst überweisen will, die Konten lauten: Baden-Württembergische Bank, IBAN DE04 6005 0101 0002 3423 40, oder Schwäbische Bank, IBAN DE85 6002 0100 0000 0063 00. Sachspenden können wir aus logistischen Gründen leider nicht annehmen.
Verein
Die Aktion Weihnachten leistet seit 54 Jahren unkompliziert Nothilfe. Außerdem fördert sie soziale Projekte in Stuttgart und der Region. Ermöglicht wird dies durch die großzügigen Spenden unserer Leserinnen und Leser sowie engagierter Unternehmen und Stiftungen. Alle Artikel zur laufenden Spendenaktion finden Sie unter www.aktionweihnachten.de.