Hamburgs grüner Verkehrssenator Anjes Tjarks über den Abschied vom Verbrennermotor, autonomes Fahren, digitale Parkkonzepte und die großen Infrastrukturprojekte, die die Hansestadt verändern sollen.
Wie bewegt sich Hamburg in zehn Jahren? Mit Elektroautos, autonomen Shuttles und einer neuen U-Bahn-Linie – wenn alles klappt. Verkehrssenator und Grünenpolitiker Anjes Tjarks spricht über große Pläne, schwierige Baustellen und die Frage, wie die Hansestadt eine Klimaneutralität bis ins Jahr 2040 erreichen kann. Letzteres hatten die Hamburger am 12. Oktober entschieden.
WELT AM SONNTAG: Herr Tjarks, gerade sind Hamburgs Klimaziele durch den Zukunftsentscheid verschärft worden. Der Verkehr ist ein Sektor, für den es neue Abbaupfade geben wird. Wie steht Hamburg aktuell da?
Anjes Tjarks: Der Verkehrssektor ist überall herausfordernd – in Deutschland, in Europa und natürlich auch in Hamburg. Wir haben inklusive Dienst- und Leihwagen rund 800.000 Pkw in der Stadt, 670.000 davon sind reine Verbrenner. Wenn wir die Klimaziele erreichen wollen, müssen wir auf Elektromobilität umstellen. Das ist der Kern. Und dafür brauchen wir nicht nur Elektroautos, sondern auch ausreichend CO₂-freien Strom. Wir müssen Öl, das heute in Motoren verbrannt wird, durch Strom ersetzen. Und dieser Strom muss grün sein. Das ist eine gewaltige Aufgabe, die weit über den Verkehrsbereich hinausgeht.
WAMS: Das heißt: Leute dazu bewegen, das Auto stehenzulassen, zu Fuß zu gehen, Fahrrad zu fahren, den ÖPNV zu nutzen, reicht nicht aus? Das hatten Sie in den vergangenen Jahren auf der Agenda …
Tjarks: Das ist wichtig, aber nicht genug. Wir müssen die Antriebe umstellen. Bei den Neuzulassungen sind wir schon bei über 50 Prozent Fahrzeugen mit E-Kennzeichen – reine Elektroautos und bestimmte Plug-in-Hybride. Das ist ein großer Schritt. Aber wir brauchen mehr bezahlbare Modelle, gerade unter 30.000 Euro. Deshalb ist Social Leasing so interessant: Vom Staat subventionierte Leasingraten würden eine Lücke für Menschen schließen, die sich sonst kein E-Auto leisten könnten. Und wir dürfen nicht vergessen: Hamburg ist eine Stadt mit sehr unterschiedlichen Lebensrealitäten. Wer in der inneren Stadt wohnt, kann leicht auf das Auto verzichten. Wer weiter von der Innenstadt entfernt lebt, sieht das anders. Deshalb müssen wir Angebote schaffen, die für alle funktionieren.
WAMS: Kommt der Punkt, wo man alle, die man überzeugen konnte, überzeugt hat – und trotzdem bleiben Verbrenner auf den Straßen?
Tjarks: Ich glaube nicht. Schauen Sie nach Norwegen: Fast 100 Prozent der Neuzulassungen sind Elektroautos. Wir sind auf einem guten Weg. Entscheidend ist, dass die Industrie Elektro-Fahrzeuge baut, die die Menschen kaufen wollen. Und wir müssen die Rahmenbedingungen verbessern, damit sich der Umstieg lohnt.
WAMS: Und in diese Diskussion kommt die Meldung, dass die EU das Verbrenner-Aus aufweicht. Hat Sie das geärgert?
Tjarks: Es hilft den Klimazielen nicht. Aber ich sehe das als Rückzugsgefechte, die den geordneten Rückzug aus der Verbrennerproduktion zum Ziel haben, nicht das Beibehalten der Technik. Schauen Sie auf die IAA: Kein Hersteller stellt noch reine Verbrenner vor. Die Zukunft des Autos ist elektrisch – und autonom. Die Frage ist nur, wie schnell sich die Technologie durchsetzt und wie stark wir sie politisch unterstützen. Es ist die Zukunft, und deswegen sollten wir das tun.
WAMS: Haben Sie Vorschläge?
Tjarks: Ein Beispiel: Wenn die Bundesregierung die Stromsteuer auch für private Haushalte gesenkt hätte, wären Wärmepumpen und E-Autos schneller wirtschaftlich. Beim Total Cost of Ownership – also der umfassenden Bewertung aller Kosten, die bei Anschaffung, Nutzung und Wartung von Fahrzeugen entstehen –, sind wir nicht mehr weit von der Parität von Verbrenner- zu E-Autos entfernt. Der Logistikkonzern Hermes hat mir zuletzt gesagt: Für ihre Fahrzeugklasse ist Elektro schon günstiger. Das zeigt: Wir sind nah dran – aber wir müssen die Rahmenbedingungen verbessern.
WAMS: Viele Menschen haben trotzdem Angst vor dieser Veränderung.
Tjarks: Ja, das ist so und das nehmen wir ernst: Gerade wer im Einfamilienhaus wohnt, eine fossile Heizung hat, und auf das Auto angewiesen ist, fragt sich: Wie soll das gehen? Deshalb müssen wir zeigen: Der Strom vom eigenen Dach ist der günstigste. Er lädt die eigene Autobatterie – und bidirektionales Laden, wenn das Auto gespeicherten Strom wieder ins Netz gibt, senkt die Kosten zusätzlich. Wenn wir diesen Business Case positiv gestalten, nehmen wir auch die skeptischen Hamburgerinnen und Hamburger mit. Ich bin sicher: Niemand, der gegen den Zukunftsentscheid gestimmt hat, ist dagegen, das Klima zu schützen. Es gab Sorge vor negativen Folgen. Klimaschutz darf nicht als Verzicht wahrgenommen werden, sondern als Chance.
WAMS: Der Begriff autonom fiel gerade schon. Hamburg will Vorreiter beim autonomen Fahren sein. Wie weit sind Sie?
Tjarks: Moia ist sehr weit: Ende 2026, Anfang 2027 erwarten sie die Zulassung für Level 4 – das heißt, Fahrzeuge dürfen ohne Fahrer in einem definierten Gebiet fahren. Level 5 wäre eine weltweite Zulassung, aber da ist man noch nicht. Wir testen außerdem Kleinbusse von Holon und eVersum – und wollen 2026 größere Fahrzeuge ausschreiben. Hintergrund ist auch der demografische Wandel: Wir haben heute deutlich weniger Schulabgänger als vor 50 Jahren. Wenn wir weiter einen guten Busverkehr wollen, brauchen wir autonome Lösungen. Sonst fehlen uns schlicht die Fahrer.
WAMS: Machen wir es konkreter: Wie viele Fahrzeuge sollen 2030 autonom unterwegs sein?
Tjarks: Mehrere Hundert – Moia denkt über einige Hundert nach, die Hochbahn mittelfristig auch. Vielleicht kommen weitere Anbieter hinzu. Wir haben heute noch kein einziges Fahrzeug mit Level-4-Zulassung in Europa. Aber Ende des Jahrzehnts, Anfang des nächsten Jahrzehnts wird das einen spürbaren Impact auf Hamburgs Straßen haben. Und das ist nicht nur eine technische Frage. Es geht auch um Akzeptanz. Die Menschen müssen Vertrauen haben, dass diese Fahrzeuge sicher sind. Deshalb sind die Zulassungsverfahren so streng – und das ist auch richtig so.
WAMS: In den USA – so sieht aus der Ferne aus – ist man schon vor einem Jahrzehnt so weit gewesen wie wir jetzt. Warum dauert das hier so lange?
Tjarks: Weil wir kompliziert sind. Die EU, die Bundesregierung – es gibt zu viele Hürden. Aber das Thema ist auch komplex. Wir müssen klären, welchen Sicherheitsstandard wir wollen, wie wir Datenschutz sicherstellen. Und das ist hier sehr wichtig, weil diese Fahrzeuge sehr viele Daten sammeln und kombinieren können. Das ist auch eine zentrale sicherheitspolitische Frage, die wir nicht als Verkehrsbehörde in Hamburg beantworten können. Und um auf ihr Beispiel zu kommen: In den USA ist der Anbieter Cruise vom Markt verschwunden, weil Sicherheitsstandards nicht ausreichend waren. Waymo macht – nach allem, was wir wissen – pro Fahrt noch immer keinen Gewinn. Da läuft also auch nicht alles gut. Aber wir haben in Hamburg eine Chance: Volkswagen, das ja hinter Moia steckt, kann skalieren. Und wir wollen nicht nur Technik importieren, sondern selbst Wertschöpfung schaffen. Autonomes Fahren ist auch eine Industriepolitik.
WAMS: Kommen wir zum Anwohnerparken. Sie haben lange dafür gekämpft, jetzt kommt das Quartiersparken. Was haben Sie gedacht, als sie die Nachricht erhielten?
Tjarks: Chaka! (lacht) Im Ernst: Ich freue mich, dass wir als Bundesland Bundesgesetzgebung beeinflussen konnten – gleich zweimal mit dem Straßenverkehrsgesetz. Quartiersparken heißt: Auch Handwerker oder Sportvereine können deutlich leichter in einer Zone parken, wenn sie ein berechtigtes Interesse haben.
Wir schaffen die Zettelwirtschaft beim Parken ab
WAMS: Was ist der zweite Punkt, den Sie neu ins Straßenverkehrsgesetz einbringen konnten?
Tjarks: Wir schaffen die Zettelwirtschaft beim Parken ab. Bisher muss der Anwohnerparkausweis im Auto liegen. Das wird bald geändert. Kein Parkschein, kein Ausdruck mehr. Alles digital. Das ist überfällig. Wir haben das Antragsverfahren bereits digitalisiert und die Ausnahmegenehmigungen stark erweitert – fast 100 Prozent werden genehmigt, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind. Das ist ein großer Schritt für die Praxis. Und es wird mit dem Quartiersparken noch bürgernäher und entlastet die Unternehmen von Bürokratie.
WAMS: Aktuell ist die Ausweitung der Anwohnerparkzonen gestoppt. Wird es mit dem Quartiersparken wieder neue Parkzonen geben?
Tjarks: Wir wollen Quartiersparken final einführen, mit allen Beteiligten besprechen und dann die digitale Parkraumbewirtschaftung ausrollen. Das entlastet Bürger und Unternehmen und reduziert den Suchverkehr. Danach werden wir weitermachen. Und wir müssen ehrlich sein: Parkraum ist knapp. Wenn wir ihn nicht steuern, haben wir Chaos. Quartiersparken ist ein Instrument, um Ordnung zu schaffen – und gleichzeitig Flexibilität für diejenigen, die sie brauchen.
WAMS: Ein anderer Bereich, bei dem Sie vom Bund abhängig sind – und bei dem es wenig erfreulich läuft, sind Bahnhöfe. Der Bahnhof Diebsteich kommt später, für den Ausbau des Hauptbahnhofs gibt es kein konkretes Zeitfenster. Warum?
Tjarks: Weil die Bahn zu langsam ist. Die größte Herausforderung in Deutschland ist der Ausbau der Eisenbahninfrastruktur. Das sage ich immer wieder. Die DB muss leistungsfähiger, schneller und günstiger bauen. Sonst verbessern sich weder Pünktlichkeit noch Zustand. Aber: Wir wollen in dieser Legislatur eine Ausbauvereinbarung für den Hamburger Hauptbahnhof erreichen – Kostenaufteilung zwischen Stadt, Bund und Bahn. Wir haben den städtebaulichen Entwurf und die ersten Leistungsphasen gemeinsam mit der Bahn finanziert, aber es geht zu langsam. Und das ist frustrierend, weil alle wissen: Hamburg braucht einen größeren Hauptbahnhof – schon seit 30 Jahren.
WAMS: Ähnliches Thema: Wie geht es weiter mit Hamburgs maroden Brücken? Besonders wichtige Brücken sind Bahn- oder Autobahnbrücken, auf die Hamburg wenig Einfluss hat …
Tjarks: Das ist unsere Top-Priorität. Hamburg hat 1235 Straßenbrücken, viele sind alt und stärker belastet als geplant. Wir arbeiten gemeinsam mit Bund und Bahn an der A1-Norder- und Süderelbbrücke, an den Bahn-Süderelbbrücken. An dem Projekt Köhlbrandbrücke arbeitet die Wirtschaftsbehörde intensiv.
WAMS: Werden alle alten Brücken so lange halten?
Tjarks: Das ist das Ziel. Aber es ist komplex. Wir reden hier nicht über ein paar Bauwerke, sondern über ein Netz. Wenn eine Brücke ausfällt, kann das den gesamten Verkehr lahmlegen. Deshalb müssen wir massiv in Erhalt und Neubau investieren, und ich werbe überall dafür.
WAMS: Was wollen Sie bis zum Ende der Legislatur geschafft haben?
Tjarks: Die erste Station der U5 einweihen. Die Bahn dazu bringen, die S4 zu bauen – mindestens bis Rahlstedt. Die Steinstraße umgestalten. Bei der A1-Norderelbbrücke den ersten Überbau fertigstellen. Alle 100 Sekunden eine U-Bahn in die Horner Geest fahren lassen. Das sind große Projekte. Sie sind wichtig für die Zukunft der Mobilität in Hamburg. Und ich bin optimistisch, dass wir das schaffen.
WAMS: Jetzt fiel nicht einmal das Wort Radverkehr bei Ihnen …
Tjarks: Auch beim Radverkehr geht es weiter, keine Sorge.
Redakteurin Julia Witte genannt Vedder arbeitet in der Hamburg-Redaktion von WELT und WELT AM SONNTAG. Seit 2011 berichtet sie über Hamburger Politik. Einer ihrer Schwerpunkte ist Verkehrspolitik.
Der Artikel stammt aus der Guest Edition der WELT AM SONNTAG von Andreas Gursky, einem der berühmtesten Fotografen der Welt. Sie können dieses einzigartige Sammlerstück hier bestellen.