An Weihnachten 2023 wird im Hotzenwald ein Flüchtling getötet. Der Täter: ein deutscher NS-Fan. Das Gericht zweifelt am rassistischen Motiv. Zu Recht? Jetzt entscheidet der BGH.

Es ist Heiligabend. Die Menschen bereiten sich auf die Bescherung vor. Auch Patrick E. will feiern. Er ist Christ, sogar ein superfrommer, die Bibel immer zur Hand. Zusammen mit seiner Familie und Freunden hat der 58-Jährige ein Naturfreundehaus im Hotzenwald gemietet, unweit der Gemeinde Rickenbach. Doch ehe es so weit ist, hat er noch Schwerstarbeit zu verrichten. Patrick E. muss eine Leiche entsorgen. Er schleppt sie in den Wald. Fünf Stunden ist er beschäftigt. Dann sitzt er in der guten Stube bei der Feier. Er ist wie immer. Nicht einmal seine Frau merkt ihm etwas an.

Der grausige Fall von Weihnachten 2023 wird am Dienstag vor dem Bundesgerichtshof noch einmal aufgerollt. Die Revisionskammer berät in mündlicher Verhandlung. Das ist bei Strafprozessen eine seltene Ausnahme. In der Regel wird am BGH nach Aktenlage entschieden. Doch die Tat von Rickenbach hat unverhofft Prominenz erhalten. Zuletzt lief sie sogar bei „Monitor“ im Ersten.

Medienberichterstattung: Einseitigkeit im Fall Hotzenwald?

Es handele sich um ein Beispiel, wie einseitig über Verbrechen in Deutschland mittlerweile berichtet werde, lautet die Analyse des Moderators Georg Restle. Kaum jemand habe von dem Fall Notiz genommen. Wobei: das ist nur die halbe Wahrheit. Linksorientierte Medien berichteten durchaus. Sogar das „Neue Deutschland“ schickte einen Reporter zum Prozess in die Kreisstadt an der Schweizer Grenze. Schweigen herrschte hingegen bei „Bild“, „Welt“ oder dem Krawallportal „Nius“. Das Opfer war ein abgelehnter Asylbewerber, der Täter ein Deutscher. Das passt offenbar nicht allen in die Agenda.

Einseitigkeit wird auch dem Waldshuter Landgericht vorgeworfen. Ziemlich genau vor einem Jahr verurteilte es den Angeklagten wegen Totschlags in Tateinheit mit unerlaubtem Führen einer halbautomatischen Kurzwaffe zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und zehn Monaten – eine auffallend milde Strafe. Für eine Verurteilung wegen Mordes fehle es an eindeutig nachgewiesenen niedrigen Beweggründen, stellte die Schwurgerichtskammer fest. Vor allem hiergegen richtet sich nun die Revision der Schwester des Opfers. Dass die in Tunesien wohnhafte Frau überhaupt als Nebenklägerin auftreten konnte, ist der Opferberatungsstelle „Leuchtlinie“ zu verdanken. Die Ermittlungsbehörden hatten sie über dieses Recht nicht aufgeklärt.

Mit seinen langen Haaren war Mahdi ben Nacer eine auffällige Gestalt im Ortsbild. Foto: privat

Für Restle ist der Fall klar: Das Gericht habe es „mit einem deutschen Straftäter besonders gut gemeint“. Es gebe zwar „Anzeichen für eine rechtsradikale Gesinnung“, so hatte das Gericht festgestellt, aber keine tragfähigen Beweise, dass Rassismus die Tat ausgelöst habe. Dabei hatte die Polizei bei dem Mann, einem passionierten Jäger, neben 38 gemeldeten Waffe, 20 000 Schuss Munition und einigen Granat-Attrappen auch NS-Literatur gefunden. Auf dem Handy teilte er rassistische Cartoons, beim AfD-Shop war er angemeldet. Über der Garage bei seinem Haus in Maulburg (Landkreis Lörrach) hatte er ein Schild mit der Aufschrift „Deutsches Schutzgebiet“ gehängt, an der Hundehütte prangte der Schriftzug „Wolfsschanze“. So hieß Adolf Hitlers Hauptquartier.

„Satire“ oder Antisemitismus? Gericht zweifelt an Motiven

Das sei alles„Satire“ und „Comedy“, erklärte Patrick E. vor Gericht. Allerdings hatte er auch von seinem Chef eine Abmahnung bekommen, nachdem er im Kollegenkreis erklärt hatte, ein „anständiger Deutscher“ kaufe nicht bei Juden. Für die Kammer war auch dies nur ein Indiz. Schließlich hing an seinem Haus auch eine Israelflagge. Es sei nicht auszuschließen, dass der nicht vorbestrafte Angeklagte wegen eines traumatischen Kindheitsereignisses einfach die Kontrolle verloren habe, stellte das Gericht fest.

Wie entscheidet der Bundesgerichtshof? Foto: dpa

Klar ist, dass sich Täter und Opfer am 23. Dezember 2023 zum ersten Mal begegnet waren. Patrick E. war gerade dabei gewesen, seine Mutter in einen Parkplatz einzuweisen, als er von Mahdi ben Nacer angepöbelt wurde. Dass das 38-jährige Opfer so hieß, fand die Polizei erst nach seinem Tod heraus. Zehn Jahre hatte der Tunesier in Deutschland unter falschem Namen und mit falscher Staatsbürgerschaft gelebt. Als Algerier hatte er sich ausgegeben, in der Hoffnung, dies werde seine Bleibechancen erhöhen.

In Rickenbach gehörte ben Nacer zum Ortsbild, eine auffällige, ja attraktive Erscheinung mit langen schwarzen Haaren, erinnert sich der Bürgermeister Dietmar Zäpernick (SPD). „Er ist immer mit einem E-Scooter durch den Ort gefahren.“ Kontakte habe er allerdings kaum gehabt, auch nicht zu Flüchtlingen. „Er hat die anderen vergrault. Er war kein einfacher Mensch.“

Gescheiterte Träume und Isolation: Das Leben von Mahdi ben Nacer

Seine Lebenspläne, die er bei seinem Weggang nach Europa wohl gehegt hatte, waren längst gescheitert. Wegen eines Drogendelikts saß er fünf Jahre im Gefängnis, so steht es in seiner Akte, die insgesamt 30 Ermittlungsverfahren auflistet. Das Asylverfahren war abgeschlossen, nur die Abschiebung blieb mangels Papieren erfolglos. In der abgelegenen Unterkunft, 100 Meter vom Naturfreundehaus entfernt, lebte ben Nacer allein.

Deshalb gibt es auch für das, was nach dem kurzen verbalen Streit auf dem Parkplatz folgt, keine Zeugen. Patrick E. lässt es damals nicht auf sich beruhen. Noch zweimal geht er im Verlauf des Tages zu der Asylunterkunft, beim zweiten Mal richtet er ben Nacer mit zwei Kopfschüssen. Was zwischen den beiden Männern vorgefallen ist, bleibt im Dunkeln. Auch die Frage, warum Patrick E. überhaupt mit einer Waffe zu der Familienfeier gefahren war, bleibt ein Rätsel. Und warum nahm er ausgerechnet eine illegale Waffe mit, wo der doch den Schrank voller legaler Waffen hatte? Er habe seine Familie beschützen wollen und aus Notwehr gehandelt, sagte Patrick E. vor Gericht. Außerdem sei er betrunken gewesen.

Der Angeklagte während des Prozesses im Landgericht Waldshut. Foto: dpa/Philipp von Ditfurth

Tage nach der Tat kehrt Patrick E. in den Wald zurück, holt die Leiche, zerteilt sie waidmännisch auf seinem Gartengrundstück, wickelt die Teile in Maschendrahtzaun und wirft sie an verschiedenen Stellen in den Rhein. Trotz einer großen Blutlache in der Asylunterkunft ermittelt die Polizei zunächst in einer Vermisstensache. Erst Monate später stößt ein Taucher durch Zufall bei Breisach auf eine Hand. Im Zuge der Ermittlungen wird auch die damalige Feiergesellschaft befragt. Gegen den 58-Jährigen besteht kein Verdacht – bis er sich drei Wochen später plötzlich freiwillig stellt.

Deal im Prozess: Milde Strafe für Patrick E.

Das Geständnis hat das Waldshuter Gericht pflichtgemäß als strafmildernd gewertet. Nach fünf Verhandlungstagen brach es den Prozess ab und beendete das Verfahren mit einem „Deal“: Patrick E. rückt von seiner Notwehr-Version ab, dafür soll die Strafe nicht mehr als sieben Jahre betragen und das Urteil auf Totschlag lauten – im Zweifel für den Angeklagten.

Die Kammer sei inzwischen selbst zu der Ansicht gekommen, dass diese Verfahrensverständigung nicht gut kommuniziert worden sei, sagt der Waldshuter Gerichtssprecher Johannes Daun. Es sei an den übrigen Verhandlungstagen aber nichts Belastendes mehr zu erwarten gewesen. „Es gab nur noch Zeugen der Verteidigung.“ Doch hätte die Kammer geahnt, was hinterher an Kritik auf sie einprasselt, dann hätte sie den Prozess wohl nicht abgekürzt, meint Daun. Auf keinen Fall sei die Justiz auf dem rechten Auge blind. Und auch für den Kollegen, der den Prozess leitete, wirft er sich in die Bresche. „Das ist ein ganz liberaler Mensch.“

Jetzt blickt alles nach Karlsruhe. „Wir sind gespannt, ob das Urteil hält“, sagt Daun. Im Zweifelsfall kann der BGH den Prozess an eine andere Waldshuter Kammer zurückverweisen. Wahrscheinlicher ist, dass der BGH dies dem kleinen Landgericht erspart und den neuerlichen Prozess gleich zu den Kollegen nach Freiburg verlegt. Sollte die Revision hingegen verworfen werden, wäre der Fall ebenfalls noch nicht abgeschlossen. Auch der Angeklagte hat Rechtsmittel eingelegt. „Seine Revision ist noch anhängig“, sagte ein BGH-Sprecher. Wie Patrick E. es sieht, steht in einem Brief, den er aus der Untersuchungshaft an seine Familie schrieb: in anderen Ländern würden Leute wie er für eine solche Tat nicht eingesperrt, sondern als Held gefeiert.