Manche Muslime besuchen gern Weihnachtsmärkte. Einige schmücken ihre Fenster im Advent. Und einzelne greifen sogar an Heiligabend zur heiligen Schrift, um ihren Kindern die Geburtsgeschichte Jesu vorzutragen – aber nicht aus der Bibel, sondern aus dem Koran. Denn auch er erzählt die Weihnachtsgeschichte. Damit gedenken sie nicht der Geburt des Gottessohnes Jesus, sondern der des im Islam verehrten Propheten Jesus. In diesem Geist hat nun auch der Verband Muslimischer Lehrkräfte Materialien vorgestellt, damit Pädagogen vor Weihnachten etwa im islamischen Religionsunterricht die koranische Geburtsgeschichte Jesu durchnehmen können.

Verbindung mit christlich geprägter Fest-Kultur

Diese Muslime verbinden sich auf gut islamische Art mit der christlich geprägten Fest-Kultur Deutschlands. Sie betonen ihren Glauben, der keine Inkarnation Gottes kennt, aber den Propheten Jesus ehrt. Sie brechen durch dieses Geburtstags-Gedenken auch nicht mit muslimischer Sitte. Schließlich wird der Geburtstag des Propheten Muhammad ebenfalls von vielen Muslimen gefeiert (in Ländern wie Indonesien, Malaysia oder Ägypten gar als staatlicher Feiertag). Diese deutschen Muslime schaffen also Nähe zu den Festen der Mehrheit, ohne ihre religiöse Identität zu verwässern – wunderbar.

Nein, gar nicht wunderbar – meint ein Heerlager sozial-medialer Islamskeptiker und AfD-Freunde. Sobald deutsche Muslime sich in Deutschland beheimaten, rebellieren sie. Dass Muslime sich auf ihre eigene Art an hiesige Bräuche annähern, ist ihnen zuwider. Und das tun sie auch kund. Damit verstärken sie die Abgrenzungstendenz manch defensiver Muslime, die davor warnen, an christlich geprägte Bräuche anzudocken (deren Sorge vor Verwässerung ihres Glaubens ist nicht verwerflich, vor allem aber ist sie nicht zwingend).

Wünschenswerte Verwurzelung in der deutschen Kultur

Ein in der Tiefe verbundenes Miteinander von Muslimen und Nichtmuslimen wird dadurch indes erschwert. Es ist nicht nur das Recht von Deutschlands zweitgrößter Glaubensgemeinschaft, sich in der hiesigen Kultur zu verwurzeln; es ist auch wünschenswert. Sogar Islamgegner sollten Interesse daran haben, dass muslimische Deutsche sich mit diesem Land verbunden fühlen und identifizieren. Aber die militanten Islamgegner sind nicht nur garstig, sondern auch kurzsichtig.

Aktuell beweist das ihre Reaktion auf den Weihnachtsmarkt in Oberhausen. Dort bieten einzelne Gastronomen nun halal zubereitete Gerichte an. Das heißt: Sie entsprechen islamischen Speisevorschriften. Auf dieses Angebot wiesen Medien und Politiker wie die Grüne Lamya Kaddor hin – und sogleich entflammte Kulturkriegerstimmung. Halal-Speisen auf Weihnachtsmärkten seien eine „Machtdemonstration“, all das laufe auf „Unterwerfung“ und die „Dominanz des Islamismus“ hinaus, so klagte die digitale Islam-raus-Fraktion.

Irgendwo verständlich, weil manche der Unterwerfungs-Beschwörer vermutlich zugeschüttet werden mit offenkundigen Falschmeldungen wie der über demonstrierende Syrer, die jüngst den Berliner Weihnachtsmarkt gestürmt hätten – oder mit der (Nicht-Falsch-)Meldung, dass demonstrierende Syrer vergangene Woche über einen Teil des Essener Weihnachtsmarkts gelenkt wurden (da wurde der Jahrestag des Assad-Sturzes gefeiert) – auf einem Markt von rund 2500 im Land.

Ärger über schweinefleischfreie Würstchen

Aber auch erstaunlich. Vor wenigen Wochen hieß es in denselben Zirkeln noch, Muslime wollten „christliche Weihnachtsmärkte“ abschaffen – bis die großen Muslimverbände und muslimische Influencer auch öffentlich ihr Herz für Weihnachtsmärkte präsentierten. Jetzt, da diese Legende widerlegt ist, köchelt die Empörung, weil Muslime die Weihnachtsmärkte übernehmen wollten – durch ein paar schweinefleischfreie Würstchen. Andere schimpften, die für Halal-Fleisch geschlachteten Tiere seien alle ohne Betäubung geschächtet worden. Aber auch das ist falsch. Hierzulande wird häufig das Fleisch von Tieren, die vor der Schlachtung betäubt wurden, als halal angeboten. Auch der größte Moscheeverband DITIB gibt dazu seinen Segen.

Aber so köchelt es nicht nur zur Weihnachtszeit. Ähnliche Schlachtrufe geistern seit Jahrzehnten durchs Zuwanderungsland. So führten die großen Muslimverbände 1997 einen nationalen Tag der offenen Moschee (TOM) ein. Am 3. Oktober, dem Tag der Einheit, bieten sie seither allen Mitbürgern an, eine Moschee von innen anzuschauen. Alljährlich ertönen deswegen die Jeremiaden der Islamgegner, mit dieser Terminierung drückten Muslime ihren Eroberungswunsch aus. Die Feier der Einheit gelte ihnen nichts. Deshalb besetzten sie den Nationalfeiertag mit Moschee-Einladungen. Doch diese Auslegung stellt die Realität auf den Kopf.

Deutschlandfahnen mit islamischem Halbmond

In Wirklichkeit wollten die Organisatoren mit der Wahl des 3. Oktobers ausdrücken, dass sie sich als Teil des wiedervereinigten Deutschlands, als dazugehörig verstehen, so beteuert der Zentralrat der Muslime. Doch der patriotische Wunsch, sich als ein Stück Deutschland zu begreifen, wird ihnen allzu oft zum Vorwurf gemacht. Zudem: Welches Echo hätte es wohl ausgelöst, wenn die Muslime anstelle eines weltlichen Feiertags einen christlichen gewählt hätten? Wäre das nicht als Kampfansage ans Christentum gewertet worden? Was sollen Muslime dann tun? An gar keinem freien Tag in ihre Gotteshäuser einladen?

Ein anderes Beispiel: Während der Fußball-WM 2014 tauchten in deutschen Städten Deutschlandfahnen auf, die mit einem islamischen Halbmond verziert waren. Vor allem Türkeistämmige bekannten damit, Fans der deutschen Elf zu sein. Doch was lösen Fotos dieser Halbmond-Flaggen aus, wann immer ein Medium sie zeigt? Genau: Empörung. Weil man „den Türken“ oder „den Muslimen“ am liebsten verbieten möchte, die Deutschlandflagge „zu verschandeln“.

Tatsächlich ist es umgekehrt: Es ist großartig, wenn Türkeistämmige die Farben und Fahnen ihres deutschen Heimatlandes schwenken – ohne mit ihrem Herkunftsland und ihrer Religion zu brechen. Schwenken sie Türkei-Flaggen, gelten sie als desintegriert. Halten sie aber Deutschlandfahnen mit Halbmond hoch, sind sie Eroberer. Warum denn kein Halbmond in Schwarz-Rot-Gold, wenn bald sechs Millionen Muslime im Land leben? Sollen die sich ewig als Fremde fühlen?

Goethes Affinität zum Islam

Muslime wurden sogar schon heftig kritisiert, weil sie gern betonen, Deutschlands Dichterfürst Nummer eins habe eine Affinität zum Islam besessen. Damit beheimaten sie ihren Glauben sozusagen auf dem Olymp deutscher Geistesgeschichte. Ist das verwerflich? Im Gegenteil. Laut Experten stimmt es ja: Goethe empfand eine innige Anteilnahme an der islamischen Tradition. Ein Gedicht wie „Selige Sehnsucht“ wird zu Recht als Synthese islamischer Mystik und deutscher Dichtkunst gefeiert.

Vor allem aber sollte sich doch jeder freuen, wenn die muslimische Minderheit nicht isoliert vor sich hin wächst, sondern in ihre deutsche Umgebung hinein. Manche haben es womöglich noch nicht verstanden: Ärger über weihnachtsfreundliche Schwarz-Rot-Gold-Muslime, die Goethe verehrend über Adventsmärkte schlendern – nein, den kann sich dieses Land nicht mehr leisten.