Das Bundesjugendorchester hat einen internationalen Ruf als Talentschmiede und Aushängeschild deutscher Musikerziehung. Doch weil langjährige Unterstützer wie Mercedes-Benz abspringen, gerate das Ensemble zunehmend in Geldnot, sagt sein Direktor Sönke Lentz. Er will nun in China nach Sponsoren suchen.
Ein feierliches Konzert zur Wiedereröffnung der jahrelang sanierten Bonner Beethovenhalle – dieser Auftritt am 17. Dezember passt perfekt zum Bundesjugendorchester, das in Bonn seinen Verwaltungssitz hat und regelmäßig in der Beethovenhalle gastierte, bevor dieser Konzertsaal vor neun Jahren für eine Generalsanierung geschlossen werden musste. Bei Sönke Lentz, dem Orchesterdirektor des Bundesjugendorchesters, ist die Vorfreude auf den Abend allerdings etwas getrübt. Der Musikmanager sorgt sich um die Zukunft dieses hochkarätigen Nachwuchs-Ensembles.
WELT: Welchen Stellenwert hat dieses Konzert in der Beethovenhalle für das Bundesjugendorchester?
Sönke Lentz: Das BJO, wie wir in Kurzform sagen, hat zu Bonn eine besondere Verbindung. Als Teil des Deutschen Musikrates ist unser Sitz in Bonn. Wir sind regelmäßig zu Gast beim Beethovenfest. Und dieser Auftritt zur Eröffnung der Beethovenhalle hat eine starke symbolische Bedeutung – die jungen Musikerinnen und Musiker stehen für die Zukunft.
WELT: Die Musiker sind zwischen 14 und 19 Jahre alt, die meisten gehen noch zur Schule. Wie organisiert man da ein bundesweites Orchester?
Lentz: Das jetzige Eröffnungskonzert ist eine Ausnahme, dafür mussten sich die meisten von der Schule befreien lassen. Normalerweise treffen wir uns in den Ferien, im Januar, an Ostern und im Sommer. Diese drei Arbeitsphasen sind seit der Gründung des BJO im Jahr 1969 ein bewährtes Prinzip. So ist eine Kontinuität gewährleistet – und man muss bei der Arbeit mit den Jugendlichen nicht jedes Mal bei null anfangen. Doch leider müssen wir im Moment sehr darum kämpfen, dass wir weiterhin drei Arbeitsphasen im Jahr finanzieren können.
WELT: Wie das?
Lentz: Unser Etat liegt bei rund 1,5 Millionen Euro im Jahr. Drei Viertel erwirtschaften wir selbst, vor allem durch Einnahmen aus den Konzerten, die wir an Veranstalter verkaufen. Die Förderung, die wir vom Bundesjugendministerium bekommen, liegt seit Langem konstant um die 350.000 Euro. Doch unsere Kosten vor allem bei den Konzertreisen sind extrem gestiegen. Bringen Sie mal 100 Leute an insgesamt 80 Tagen unter! Ich habe nachgerechnet: Seit 2019 haben wir 80.000 Euro durch die Inflation verloren. Das sind in unserer Rechnung fast die Kosten für eine Arbeitsphase. Die nächsten ein oder zwei Jahre können wir das noch irgendwie mit Einsparungen ausgleichen. Aber wenn wir auf Dauer die dritte Arbeitsphase halten wollen, brauchen wir mehr Förderer.
WELT: Das Bundesjugendorchester hatte doch stets namhafte Sponsoren und Förderer.
Lentz: Die haben wir zum Glück immer noch. Die DekaBank, unser Hauptsponsor, ist seit vielen Jahren ein treuer Partner. Über Jahrzehnte gab es auch eine Spende von Mercedes-Benz, aber die ist zum Jahresende eingestellt worden. Begründet wird das mit der wirtschaftlichen Lage in der Automobilbranche. Das ist nachvollziehbar, aber uns fehlen nun 25.000 Euro. Früher hat uns auch der Westdeutsche Rundfunk einmal im Jahr für eine Aufnahme ins Funkhaus eingeladen – und diese Produktionszeit großzügig honoriert. Die Produktionen machen wir immer noch, aber es gibt dafür kein Geld mehr. Solche Dinge addieren sich, und in der Summe schmerzt es dann.
WELT: Womit wollen Sie solche Ausfälle kompensieren?
Lentz: Wir verfolgen mehrere Strategien. Unser Fokus wird künftig zusätzlich auf Spenden und Vermächtnisse gerichtet sein. Wir wissen alle, dass es in Deutschland viel Kapital gibt. Und es gibt vermögende Menschen, die unserer Kultur und der Jugend etwas Gutes tun möchten. Diese Menschen wollen wir verstärkt ansprechen. Die vor elf Jahren gegründete Stiftung Bundesjugendorchester hilft uns dabei. Wir suchen aber auch weiterhin nach Firmen, die uns sponsern. Da scheuen wir nicht vor ungewöhnlichen Anfragen zurück.
WELT: Was verstehen Sie unter einer ungewöhnlichen Anfrage?
Lentz: Im Moment haben wir Kontakt zum chinesischen Autokonzern BYD aufgenommen.
WELT: Wie bitte? Das Bundesjugendorchester, das Flaggschiff deutscher Musikausbildung, in der Hand eines chinesischen Staatskonzerns! Gibt es keine Statuten, die das verbieten?
Lentz: Wir werden das Orchester ja nicht verkaufen! Verboten haben wir uns Kooperationen mit Alkohol- und Tabakfirmen. Alles andere müssen wir ausdiskutieren – mit dem eigenen Gewissen, dem institutionellen Gewissen des BJO und natürlich unseres Trägers, des Deutschen Musikrats. Und diese Diskussion ist noch nicht beendet.
WELT: Wie denken Sie persönlich über ein Sponsoring aus China?
Lentz: Ich habe damit keine grundsätzlichen Probleme. Wir haben ja auch schon in China konzertiert – und in anderen Ländern wie Indien, Südafrika, Venezuela und dieses Jahr Nigeria. Ich finde, gerade wir Künstler und unsere jungen, zukünftigen Brückenbauer müssen solche Kanäle der Verständigung offen halten, so lange es geht. In Russland würden wir derzeit allerdings nicht spielen.
WELT: Die Finanzkrise ist das eine. Wie steht es denn um die öffentliche Wahrnehmung des BJO?
Lentz: Darauf gibt es zwei Antworten. Zum einen ist es zunehmend schwer für uns als freies Ensemble, in die Konzerthäuser mancher Städte reinzukommen. Die Kommunen sind klamm, und es gibt immer weniger private Veranstalter. Probleme haben wir vor allem in den östlichen Bundesländern. Seit Jahren versuchen wir mit aller Kraft, wieder in Städten wie Jena, Dresden, Leipzig, Weimar oder Frankfurt/Oder aufzutreten – vergeblich.
WELT: Und wie lautet Ihre zweite Antwort?
Lentz: Dass das Publikum mehr und mehr den Wert und die Qualität von Jugendorchestern erkennt. Die jungen Musikerinnen und Musiker werden immer besser. Unsere Dozenten, die seit vielen Jahren die Proben leiten, bestätigen das. Was heute bei Aufnahmeprüfungen an Hochschulen geboten wird, war früher das Niveau der Abschlussprüfungen. Man schätzt außerdem die Spielfreude und den Elan, den Orchester wie das BJO versprühen. Einen großen Schub hat uns da übrigens das Simon-Bolivar-Jugendorchester aus Venezuela gegeben. Als diese jungen Musiker vor fast 20 Jahren zum ersten Mal in Deutschland gespielt haben, waren wir alle geflasht von deren Energie. Dazu kam der Überraschungseffekt: ein Orchester aus einem Land, das man mit klassischer Musik aus Mitteleuropa bisher überhaupt nicht in Verbindung brachte. In diesem Sturm der Begeisterung konnten die deutschen Jugendorchester mitsegeln.
WELT: Die deutsche Orchesterlandschaft gilt als einzigartig. Doch das Selbstverständnis, mit dem die Gesellschaft lange Zeit klassische Orchester finanziert hat, bröckelt. Wie wirkt sich das auf die Stimmung im BJO aus?
Lentz: Sicher, der Stellenwert hat sich gewandelt. Nicht mehr zu jeder öffentlichen Feier und zu jedem Festakt wird ein Orchester eingeladen. Ich trauere den alten Zeiten aber nicht hinterher. Der Geschmack ändert sich. Und ich weigere mich, in einen allgemeinen Kulturpessimismus einzustimmen. Das Orchester als solches wird nicht sterben. Und Jugendorchester werden immer die Menschen begeistern.
WELT: Noch immer ist es bei Jugendorchestern üblich, die großen Werke der klassisch-romantischen Musiktradition aufzuführen. Reicht das?
Lentz: Wir befinden uns in einem stetigen Wandlungsprozess. Es geht immer auch darum, sich an der Gegenwart zu messen. Ich nenne mal als Beispiel unsere letzte Sommertournee unter dem Titel „Harmonien des Glaubens“. Gespielt wurden drei Werke mit klaren, aber sehr unterschiedlichen religiösen Statements. Die Botschaft des Orchesters: Unterschiedliche Glaubensrichtungen sollen nebeneinander existieren. Als Zugabe spielte das Orchester ein selbst erarbeitetes Stück, in dem die Musiker Motive aus allen drei Werken zusammengefasst hatten. Dazu wurde auch gesprochen – und mit dem Publikum gesungen. Das war sehr ergreifend und alles andere als Museumsmusik. Ich könnte viele solcher Projekte aufzählen. Unsere Aufgabe ist es, den Horizont groß zu machen.
WELT: Wie steht es denn mit dem Anreiz, den das BJO auf Jugendliche ausübt? Gibt es trotz der allgemeinen Klassik-Müdigkeit in der Gesellschaft genügend Nachwuchs?
Lentz: Tatsächlich hören wir vereinzelt aus den Landesjugendorchestern, dass es dort Nachwuchsprobleme gibt. Aber an der Spitze wie bei uns im BJO ist davon nichts zu spüren. Eher im Gegenteil. In unserer Szene ist das BJO immer noch das große Ziel, das viele anstreben. Leute, die so begabt sind, beißen sich durch, egal wie widrig die Umstände sind. Sie wollen einfach Musik machen. Die Entwicklung hat eher den Effekt, dass diese Jugendlichen noch härter und konsequenter ihren Weg verfolgen.
WELT: Sprechen Sie und die Dozenten mit den Jugendlichen auch über die Schattenseiten?
Lentz: Sicher. Die Jugendlichen haben viele Fragen zur Zukunft des Musikerberufs. Und solche Gespräche sind immer ein schmaler Grat – man muss ermutigen, aber auch mal sagen: „Überleg mal, ob es Alternativen für dich gibt.“ Das BJO ist ja auch ein Marktplatz der Talente. Auch wenn alle gemeinsam an einem Ziel arbeiten, so misst man sich ja doch untereinander. Sie müssen sich das vorstellen: Da kommt ein großes Talent aus einer kleinen Stadt in der Provinz – und trifft bei uns auf so viele Gleichgesinnte, die sich fundamental vom Freundeskreis zu Hause unterscheiden. Natürlich fragt man sich: Wo stehe ich? Traue ich mir das wirklich zu?
WELT: Also werden nicht alle BJO-Mitglieder Berufsmusiker?
Lentz: Immerhin 81 Prozent werden Musiker. Aber wir stellen fest, dass den jungen Menschen die Skills, die sie im Orchester jahrelang trainiert haben, auch in anderen Berufen zugutekommen: Team-Playing, Konzentrationsfähigkeit, auf ein Ziel fokussieren. Viele unserer Ehemaligen sind in verschiedensten Berufen höchst erfolgreich.
Die nächsten Konzerte des Bundesjugendorchesters: 17.12.25, Beethovenhalle Bonn (Restkarten); 11.1.26, Berlin; 12.1.26, Wiesloch; 13.1.26, Villingen-Schwenningen; 15.1.26, Ludwigsburg; 16.1.26, Mönchengladbach; 18.1.26, Dortmund; 10.4.26, Köln; 12.4.26, Bielefeld. Am 1. Februar 2026 sendet SWR Kultur einen Konzertmitschnitt aus Wiesloch. Weitere Termine sowie Infos zu Spendenkonten unter bundesjugendorchester.de
Dieser Artikel stammt aus der Guest Edition der WELT AM SONNTAG von Andreas Gursky, einem der berühmtesten Fotografen der Welt. Sie können dieses einzigartige Sammlerstück hier bestellen.
afa