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Die Produktivität sinkt seit Jahrzehnten dramatisch. Der Strukturwandel zu Dienstleistungen bremst das Potenzialwachstum dauerhaft aus.

Deutschlands Wirtschaft stagniert im dritten Jahr. Es ist die längste Schwächephase seit Gründung der Bundesrepublik. Bestätigt wird dieser negative Trend durch den kalender- und saisonbereinigten Produktionsindex, den das Statistische Bundesamt (Destatis) am Montag in Wiesbaden veröffentlicht hat. Selbst die Industrie, die doch jahrzehntelang als harter Kern der deutschen Wirtschaft galt, schwächelt seit 2021. Für diese konjunkturelle Talfahrt gibt es viele Gründe – von der ausgeuferten Bürokratie, mit der sich Unternehmen herumschlagen, bis zum Zollhammer, den US-Präsident Donald Trump schwingt. Doch die Problemzone liegt tiefer: Wirtschafts- und Produktivitätswachstum haben sich in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter abgeschwächt.

Strecken für die Wirtschaft? Dienstleistungen wie Yoga-Kurse (hier in einem Mühlheimer Park) spielen eine größere Rolle.Strecken für die Wirtschaft? Dienstleistungen wie Yoga-Kurse spielen eine größere Rolle. © LarsxFröhlich Deutschlands Wirtschaft: Längste Schwächephase seit 1949 – Produktivität bricht dramatisch ein

Während das Bruttoinlandsprodukt (BIP) während der frühen „Wirtschaftswunder“-Jahre um durchschnittlich 8,2 Prozent zulegte, wuchs die Wirtschaft in den Sechzigern lediglich noch um 4,4 Prozent per Jahr. In den siebziger Jahren betrug laut Destatis das durchschnittliche Wachstum nur noch 2,9 Prozent, in den Achtzigern 2,6 Prozent. Trotz Wiedervereinigungsboom sank das durchschnittliche Wachstum danach weiter, auf 1,7 Prozent.

Selbst die zunehmende Globalisierung und China als neuer großer Absatzmarkt für deutsche Produkte verhinderten nicht ein weiteres Absinken der Wachstumsraten auf durchschnittlich 0,9 Prozent. Trotz Internet-Hype und Handy-Flut folgte bis 2020 nur eine minimale Erholung. Und auch das Comeback nach der Corona-Rezession war dann nur von kürzester Dauer und 2023 sowie 2024 ging die Wirtschaftsleistung in Deutschland (mit -0,3 und -0,2 Prozent) gegenüber den Vorjahren sogar zurück.

Die Gründe für diese Wachstumsschwäche sind vielfältig: Da ist zunächst die Stochastik und die „Große Zahl“. In allen erfolgreichen Volkswirtschaften wird es mit zunehmender Größe schwieriger, imposante prozentuale Wachstumsraten zu erzeugen. So betrug das BIP 1970 umgerechnet gerade mal rund 360 Milliarden Euro, im Jahr 2024 war es auf mehr als 4300 Milliarden angeschwollen. Jeweils ein Prozent Wachstum darauf unterscheidet sich in beiden Fällen nominal erheblich. Unschärfen erzeugen auch die (zunehmende) Anzahl der Bevölkerung oder die Menge der aktiven Erwerbspersonen.

Im Norden schwächelt der Kapitalismus

Bei aller berechtigten Wachstumskritik, auch an der Berechnung des BIP (siehe FR vom 15.08.2025): Das Gesellschaftsmodell der sozialen Marktwirtschaft basiert nun einmal auf Wachstum und nennenswerten BIP-Wachstumsraten. Allein Wachstum ermöglicht eine stärkere Teilhabe der Beschäftigten am erwirtschafteten Reichtum, ohne dass es zu gesellschaftlichen Verwerfungen kommt. Die Spaltung der Gesellschaft – nicht allein in Deutschland – ist auch, wenn nicht hauptsächlich eine Folge der wirtschaftlichen Schwäche des Kapitalismus im „globalen Norden“.

Einen handfesten Grund für das abnehmende Wachstumstempo ergibt sich aus dem strukturellen Wandel der Ökonomie. Das Münchner Ifo-Institut macht in einer Studie die Automobilindustrie und den Maschinenbau für den Niedergang verantwortlich. „Etwa die Hälfte dieses Rückgangs lässt sich auf eine nachlassende Dynamik in zentralen Industriebranchen zurückführen“, so Ifo-Konjunkturforscher Robert Lehmann.

Strukturwandel als Wachstumskiller: Ifo-Institut macht Autoindustrie für Niedergang verantwortlich

Mehr in die Tiefe geht der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, die „Wirtschaftsweisen“. Deren Vorsitzende Monika Schnitzer ließ jüngst auf einer Pressekonferenz keinen Zweifel daran, dass „die Produktivität der Wirtschaft steigen muss“, durch Investition und Innovation.

Diese Forderung Schnitzers beißt sich paradoxerweise mit den Zahlen im eigenen Jahresgutachten des Sachverständigenrats. Danach ist das jährliche Produktivitätswachstum seit 1970 von rund fünf auf 0,5 Prozent gesunken! Auch linke Ökonominnen und Ökonomen sehen dies als Folge des Strukturwandels, den Volkswirtschaften durchlaufen: Die Bedeutung des sekundären Sektors, der Industrie, sinkt; der tertiäre Sektor, die Dienstleistungen, gewinnt an Bedeutung und dominiert zunehmend die Arbeitswelt. Mit wachsendem Wohlstand hat sich die Nachfragestruktur grundlegend verändert, Dienstleistungen werden immer mehr nachgefragt – vom Yoga-Kurs über die Finanzberatung bis zum Verbraucherschutz.

Doch während in der Industrie beispielsweise die Automatisierung der Autoproduktion – denken wir an Teslas Gigafactory in Brandenburg – zu sprunghaften Anstiegen in der Produktivität führen kann, stagnieren die arbeitsintensiven Dienstleistungsbranchen quasi naturgegeben: Verkäuferinnen verkaufen nicht schneller, Friseure schneiden nicht flotter und die Produktivität von Pflegerinnen und Pflegern ist menschlich begrenzt.

Wirtschaftsweise warnt vor Kollaps: Produktivität muss steigen – doch die Zahlen sprechen dagegen

Unterm Strich wird das Potenzialwachstum gedeckelt, also das unter den gegebenen Bedingungen mögliche Wachstum. Dabei schneidet Deutschland im internationalen Vergleich eher noch günstig ab. Der Strukturwandel verlief in den vergangenen Jahrzehnten weniger dramatisch als in vielen anderen entwickelten Volkswirtschaften. So ist der Anteil der Industrie am BIP mit einem Fünftel im internationalen Vergleich weiterhin hoch. Noch. Denn die dämpfende Auswirkung des Strukturwandels auf das Potenzialwachstum werden sich voraussichtlich fortsetzen, da weiterhin Dienstleistungen an Bedeutung gewinnen dürften, die bisher ein stagnierendes Produktivitätswachstum haben, wie etwa Finanzgeschäfte oder körpernahe Dienstleistungen.

Wachstum kann zwar durch längere Lebensarbeitszeiten, die Einwanderung von Fachkräften (auf Kosten der Herkunftsländer) oder eine höhere Konsumnachfrage stimuliert werden. Nachhaltige Effekte sind dadurch aber nicht zu erwarten. Um die Produktivität und damit das Wachstum grundlegend zu steigern, bleiben als Mittel der Wahl nur massive Investitionen in Bildung und Infrastruktur. Einen sprunghaften Anstieg der Produktivität werden solche mittelfristig wirkenden Instrumente aber nicht erzeugen.

Folglich sollten sich Wirtschaft und Gesellschaft mit bescheidenen Wachstumszahlen begnügen. Die kulturelle Kluft zwischen Arm und Reich, die Einkommensunwucht innerhalb der Rentengeneration oder die ausufernden Miet- und Lebensmittelpreise lassen sich zukünftig nicht mehr dauerhaft mit Wachstumsraten übertünchen. Sie müssen stattdessen politisch gelöst werden.