Brüssel – Kurz vor Mitternacht im Brüsseler EU-Viertel. Hinter den Glasfassaden der Kommission in der Rue de la Loi brennt noch Licht. Dossiers stapeln sich, Telefone laufen heiß, auch am Wochenende herrscht Anspannung. Beamte raunen von einem „historischen Risiko“. Ein Eurokrat: „Wenn wir scheitern, kippt der Westen.“
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Es geht um rund 210 Milliarden Euro. Russisches Staatsvermögen, das eingefroren wurde, nachdem Wladimir Putin 2022 die Ukraine überfallen hat. Die EU-Kommission will der Ukraine ein Reparationsdarlehen von bis zu 165 Milliarden Euro gewähren. Dafür sollen die 210 Milliarden Euro als Sicherheit für die Kredite dienen. Geld, das Europa nutzen will, um Kiew weiter im Krieg zu halten. Geld, das darüber entscheidet, ob die Ukrainer durchhalten oder ob ihnen schon in wenigen Monaten die Mittel ausgehen. Und ob Europas Finanzsystem am Ende ins Wanken gerät.
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen (67) macht Druck, sagt zu BILD: „Wir müssen der Ukraine, die so aufopferungsvoll um ihre Freiheit und demokratische Zukunft kämpft, finanziell zur Seite stehen. Es ist gerade jetzt enorm wichtig, ihre Position auch am Verhandlungstisch zu stärken.“
Ursula von der Leyen mit EU-Ratspräsident António Costa
Foto: SIMON WOHLFAHRT/AFP
Doch die Kredit-Operation birgt schwindelerregende Risiken. Ein Großteil der Vermögen liegt beim belgischen Finanzdienstleister Euroclear, der Währungsreserven von fast 100 Zentralbanken aus Europa und aller Welt verwahrt: insgesamt Wertpapiere von über 42 Billionen Euro.
Der belgische Premier Bart de Wever (54) warnte beim letzten EU-Gipfel die Kollegen zu nächtlicher Stunde, nicht einmal im Zweiten Weltkrieg sei Zentralbankgeld gegnerischer Staaten angerührt worden. Er befürchtet, Belgien müsse das Geld am Ende an Putin allein zurückzahlen.
Euroclear-Chefin Valérie Urbain zu BILD: „Es ist meine Aufgabe, dass politische Entscheidungsträger gut über die Auswirkungen ihrer Maßnahmen informiert sind.“ Ihre Mahnung an die EU-Staats- und Regierungschefs: „Alle Maßnahmen und Vereinbarungen der EU dürfen nicht das Vertrauen in die internationalen Finanzmärkte untergraben“.
Valérie Urbain ist CEO des belgischen Finanzdienstleisters Euroclear – und warnt vor unabsehbaren Folgen der Beschlagnahmung des Vermögens
Foto: Bloomberg via Getty Images
Gerät unser Finanzsystem ins Wanken?
Denn was wäre, wenn Billionen an Kapitalströmen umgelenkt werden? Weg von den Banken-Metropolen Frankfurt, Paris und Brüssel? Urbains Warnung ist glasklar: Dann verliert Europa den Ruf, ein sicherer Hafen zu sein. Die Folge wäre eine massive Kapitalflucht aus der EU. „Denn Rechtssicherheit ist die Grundlage der Weltwirtschaft.“
Prof. Clemens Fuest (57), Ökonom und Präsident des ifo-Institutes, sagt zu BILD, das Eigentum anderer Staaten zu beschlagnahmen, sei ein schwerwiegender Schritt: „Die Verlässlichkeit von grundlegenden Eigentumsrechten wird dadurch beeinträchtigt.“
Doch Europa habe keine andere Wahl: „Die EU-Staaten haben ein dringendes sicherheitspolitisches Interesse, die Ukraine zu unterstützen. Da die Europäer sich derzeit offenbar nicht einigen können, selbst genug Mittel bereitzustellen, ist die Verwendung der russischen Vermögen der richtige Schritt.“
Im Klartext: Weil die EU-Staaten hoch verschuldet sind, wollen sie der Ukraine nicht mit eigenem Geld helfen.
Laut Prof. Clemens Fuest ist die Maßnahme riskant – aber unumgänglich
Foto: SVEN SIMON
Showdown beim Europäischen Rat in Brüssel
Showdown ist am kommenden Donnerstag beim EU-Gipfel in Brüssel. Ratspräsident António Costa (64) beschwört die Einigung, sagt, er wolle die Staats- und Regierungschefs der Union notfalls tagelang verhandeln lassen, um eine Entscheidung über die Finanzierung der Ukraine zu erzielen.
Der Ausgang ist völlig offen: Belgien fürchtet russische Vergeltungsmaßnahmen – von Klagen vor internationalen Gerichten bis hin zu Sanktionen und Cyberattacken.
Und der künftige tschechische Ministerpräsident Andrej Babis (71) lehnte es am Samstag ab, Garantien für die Finanzierung der Ukraine zu übernehmen. Die Europäische Kommission müsse alternative Wege zur Unterstützung des Landes finden, sagte Babis, der am Montag sein Amt antritt. „Wir werden für nichts Garantien übernehmen und auch kein Geld hineinstecken.“
Der Tscheche Andrej Babis könnte sich als robuster Gegner der Pläne von der Leyens erweisen
Foto: ddp/abaca press
Die Ukraine muss nach den Worten von Urbain den Reparationskredit nur zurückzahlen, wenn Russland seinerseits nach einem Friedensvertrag Reparationen an Kiew leisten sollte. Das aber gilt als wenig wahrscheinlich.
Belgien-Premier de Wever will sich gegen mögliche Klagen Russlands absichern. Um das Risiko zu streuen, sollen auch andere G7-Staaten wie Großbritannien, Kanada und Japan einbezogen werden. Das Geld zurückzahlen zu müssen, wäre eine politische Demütigung für Europa und eine kolossale Aufgabe angesichts ohnehin knapper Haushaltsmittel.
Russische Vermögen werden dauerhaft eingefroren
Am Freitagabend demonstrierte Europa seine Entschlossenheit! Die Mitgliedstaaten haben sich darauf geeinigt, das russische Vermögen dauerhaft einzufrieren.
Bisher musste alle sechs Monate einstimmig über die Nutzung des russischen Vermögens neu entschieden werden. „Nun wird die Gefahr gebannt, dass etwa Ungarn mit einer Gegenstimme die Nutzung gefährden könnte“, so Völkerrechtler Professor Christian Tietje (58, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg).
Mehr zum ThemaVon der Leyen warnt Russland: „Der Kreml muss wissen, dass die Kosten steigen“
Rechtswissenschaftler Tietje hält das Vorhaben insgesamt für heikel, aber die Absicherungsmechanismen der EU für tragfähig, weil sich die Juristen in Brüssel einen weiteren Kniff ausgedacht haben: „Als Garantie für die Ukraine-Kredite soll nicht das russische Vermögen selbst, sondern die Kapitalerträge daraus verwendet werden. Darauf hat Russland keinen Anspruch“, so Tietje. Russland könne dieses Geld also nicht vor einem Schiedsgericht einklagen.
Das sehen die Russen freilich anders. Die russische Zentralbank hat jetzt eine Klage vor einem Moskauer Schiedsgericht gegen Euroclear angekündigt.
Die „illegalen Handlungen“ der Bank würden der russischen Zentralbank Schaden zufügen. Genau davor hatte Belgien gewarnt. Ein mögliches Urteil eines Schiedsgerichts müsste jedoch von einem europäischen oder internationalen Gericht anerkannt werden. Das gilt als kaum vorstellbar.
Von der Leyen lenkt den Blick darauf, was ihr wichtig ist: „Es geht hier um Europas Sicherheit und Zukunft. Und der Kreml muss wissen: Solange er seinen brutalen Angriffskrieg und die Zerstörungen in der Ukraine fortsetzt, steigen auch seine Kosten.“