Selbst aus dem Publikum eilen einzelne Gestalten in grauem Dress auf die Bühne, um allen ihre „Vernashornung“ zu demonstrieren. Sie wollen dazu gehören.
Im gleichnamigen Stück von Eugène Ioneso, das jetzt im Düsseldorfer Schauspielhaus Premiere feierte, geht es um das erschreckende Tempo, in dem sich ein neuer Trend in einer demokratischen Gesellschaft verbreiten kann. Und einem autoritären System Platz macht, das jedes Widerstands-Pflänzchen niedertrampelt. Der rumänisch-französische Autor Ionesco (1909-1994) schuf damit eine Polit-Parabel über die schleichende Machtergreifung eines totalitären Regimes und ein Meisterwerk des absurden Theaters, das 1959 in Düsseldorf uraufgeführt wurde und erst ein Jahr später im Pariser „Odéon“ Premiere hatte.
Auf der Hand liegt, dass dieses Werk, das Generationen von Pennälern als Abiturthema vorgelegt wurde, zur Gegenwart passt. Der Text (in zeitgemäßer Neu-Übersetzung von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel) mit seinen humorvollen Sprach-Spielereien, die Dialoge und die Charaktere sind so stark, dass es keiner vordergründigen Aktualisierung bedarf. Konsequent entwickeln Regisseurin Selen Kara und ihre Ausstatterin Lydia Merkel anspielungsfreie Tableaus.
Bérengers bester Freund Jean, der Gemüsehändler Botard, selbst der systematisch kalkulierende Logiker und die kritische Mademoiselle Dudard – sie alle kippen um, schließen sich den Nashörnern an. Wie auch Bérengers Geliebte Daisy, die bis kurz vor Schluss zu ihm hält. Erst als Daisy (Sophie Stockinger) ihn verlässt, verschwindet Bérenger im Bett. Hoffnungslos ist die Situation für ihn, hört er doch vor und hinter seinem Haus das Poltern der „Nashörner“.
Alle Figuren reden permanent über die „Unpaarhufer“, sinnieren darüber, ob die mit zwei Hörnern aus Asien oder Afrika stammen, oder meinen, dass es doch gar nicht so schlimm sei, sich den tonnenschweren Tieren anzuschließen. Man hört sie poltern und stampfen. Anfangs zieht nur ein einzelnes Exemplar an Bérengers Haus vorüber. Doch die Geräuschkulisse (Musik: Torsten Kindermann) wird in den pausenlosen 100 Minuten immer lauter und bedrohlicher.
Die deutsch-türkische Regisseurin Selen Kara, die nach einem Eklat im Essener Grillo-Theater als einzige Intendantin übriggeblieben ist, vertraut Ionescos Figuren und den grotesken Zügen der „ganz normalen Leute“: Die Frau mit Katze (hinreißend schrill: Claudia Hübbecker), die plötzlich kreischt und ihren zertrampelten Vierbeiner in den Armen hält. Der neunmalkluge Freund Jean (Sebastian Tessenow) in kariertem Anzug, der Bérenger ‚retten’ will. Die wohlabwägende Dudar (Fnot Taddese) oder der stieselige Feuerwehrmann (Markus Danzeisen).
Sie sehen sich selbst als Norm, tolerant und offen, verteidigen aber mit zunehmend scharfem Ton die Unpaarhufer. Doch bekommt die Handlung anfangs nicht genug Drive und die Absurdität der banalen Gespräche wird nicht zugespitzt, sondern verblasst in betulicher Langsamkeit und langweilt. Zündendes „Théâtre absurde“ sieht anders aus. Im zweiten Teil des Stücks aber werden Tempo und Dynamik leicht erhöht und führen die unausgesprochene Gefahr der Vernashornung vor Augen. Überwiegend retten die Darsteller den Abend. In erster Linie Heiko Raulin als Protagonist Bérenger. Struwwelige Haare, leicht verpeilt und alkoholisiert, mimt er den krawalligen Außenseiter, der sich automatisch gegen die „rhinocérite“ (Rhinozeritis) wehrt. Er bleibt ausgeschlossen bis zum bitteren Ende. Und macht klar, dass es an jedem Einzelnen liegt, ob er ein Nashorn wird oder nicht.
Fazit: Zeitloses, zur Zeit aber aktuelles Thema. Starke Mimen, schwache Regie.