Es waren nur drei Worte. Ein Arzt verliert sie eher beiläufig. Sie treffen sie wie ein Schlag in die Magengrube. Der Arzt sagt: „Du stirbst sowieso.“ Sie, das ist Naomi Seibt, heute 25 Jahre alt, AfD-Influencerin. 

Mai 2022. Ihre Karriere als Lautsprecherin der Partei ist, so scheint es, vorbei. Ihr YouTube-Kanal wurde gesperrt. Es geht ihr schlecht, auch gesundheitlich. Sie magert ab, auf 28 Kilo.

Drei Jahre später darf man Fotos aus dieser Zeit nicht mehr veröffentlichen. Seibt hat jetzt eine Managerin, sie lebt in den USA. Was sie postet, interessiert jetzt nicht mehr nur die Fans der AfD, sondern auch die Trump-Anhänger. Der US-Präsident hat rechtspopulistische Parteien in Europa gerade zu Verbündeten im Kampf gegen eine vermeintliche Unterdrückung der Meinungsfreiheit erklärt. Das wertet ihre Arbeit auf. Seibt produziert Schlagzeilen, die auch außerhalb ihrer rechten Bubble verfangen. Die jüngste lautete: „Rechte Aktivistin beantragt Asyl in den USA.“

Asyl, das ist ein großes Wort. Es ist der Rettungsanker für Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen, weil ihnen Repressionen drohen, im schlimmsten Fall der Tod. Man denkt an Frauen, die vor den afghanischen Taliban oder den iranischen Mullahs fliehen. Man denkt nicht an: Naomi Seibt. 2000 geboren im westfälischen Münster, Einserabitur, abgebrochenes BWL- und Psychologiestudium.

Deutschland gehört zu den sichersten Ländern der Welt. Wie kommt Seibt dazu zu behaupten, sie dürfe hier nicht mehr sagen, was sie denkt? Die Antifa, der Verfassungsschutz – alle seien hinter ihr her. Deutschland sei auf dem Weg zur Diktatur. Glaubt sie das tatsächlich? Oder plappert sie nur das, was die AfD hören will? Benutzt die Partei Naomi Seibt? Oder ist es umgekehrt?

Man erreicht sie telefonisch in Washington, D. C., dort, wo sie jetzt wohnt, nicht weit entfernt vom Capitol. Sie klingt fröhlich, beinahe aufgekratzt. Keine Spur mehr von der Naomi, die am Ende so kraftlos war, dass ihr das Aufstehen schwerfiel. Sie sagt, die drei Worte ihres Arztes hätten ihren Widerstand beflügelt. „Ich habe erkannt, dass ich für mich kämpfen muss.“

Anti-EU Tweet von Naomi Seibt auf XAnti-EU Tweet von Naomi Seibt auf X

Und das macht sie jetzt – auf eine sehr eigene Art. Sie streut Sand in die deutsch-amerikanischen Beziehungen. Sie flutet das Netz mit „Fuck the EU“ oder „God bless America“. Likes abgreifen. Das ist ihre Medizin. In den USA stimmt die Dosis. Erst hier, in Trump’s Own Country, nimmt sie die Öffentlichkeit wahr. Ihr Asylgesuch hat aus der Influencerin eine Person des öffentlichen Lebens gemacht.

Als „unabhängige Journalistin“ tritt Seibt jetzt im US-Fernsehen auf, gestern bei „Fox News Digital“, heute bei „One America News Network“ (OANN), in der Talkshow bei Matt Gaetz. Dem Mann, der eigentlich Trumps Justizminister werden sollte, bevor ihn ein Skandal zum Rücktritt zwang. Dem erzählt sie: „I fear for my life!“

Mit Fakten hat es Seibt nicht so. Fakten stören nur. Sie lebt in ihrer eigenen Welt. Gut-Böse. Schwarz-Weiß. Freund-Feind. Vielleicht wird man so, wenn man als Teenager lieber im Internet abhängt als mit Gleichaltrigen. „Sherlock“ ist ihr Vorbild. Sie sagt, die Figur aus der BBC-Serie sei durstig nach Wissen. Und sie lasse sich von keinem vereinnahmen. Die Filmfigur motiviert sie, Englisch zu sprechen.

So wächst sie auf – als Außenseiterin. Andere Mädchen gehen auf Partys. Naomi büffelt Physik und Chemie. Zweimal gewinnt sie den 1. Preis bei „Jugend forscht“. Als Nerd bezeichnet sie sich selbst. Sie sagt: „Ich war nie das cool kid.“

Auf der Flucht vor der Depression

Ein Mädchen, das sich nicht gesehen fühlt. Sie hört Podcasts und liest. Comics oder Fantasyromane? Nein, alles über Politik und Philosophie. Ihr Lieblingsbuch in der Grundschule ist „Sofies Welt“ von Jostein Gaarder.

Damals, so erzählt sie es am Telefon, leidet sie an Bauchweh. Aber die Ärzte finden keine organische Ursache. Als sie im Krankenhaus landet, ist es fast zu spät: Blinddarmdurchbruch. Die Ärzte retten sie, doch danach magert sie ab. Warum, ist nicht ganz klar. Sie sagt, ihre Mutter hätte auf Magersucht getippt. Sie selbst schiebt es auf die Nebenwirkungen von Antibiotika.

Ist das wirklich erst drei Jahre her? Wenn die neue Naomi Seibt über die alte Naomi Seibt spricht, ist es, als spreche sie über eine Fremde. Sie sagt, sie habe aus Münster weggemusst. Sie wäre dort in eine Depression geschlittert. Es klingt, als sei sie geflohen.

September 2024. Seibt landet in Miami. Eigentlich will sie sich das Land nur mal anschauen. Aber da ist der US-Präsidentschaftswahlkampf. Sie platzt mitten hinein. Sie reist von Rally zu Rally. Sie trifft Leute, die sie schon aus dem Internet kennt. Der Bekannteste schickt ihr eine Direktnachricht auf dem Kurznachrichtenportal X: Elon Musk.

Naomi Seibt Tweets via Antja HildebrantNaomi Seibt Tweets via Antja Hildebrant

Nicht nur ihm fällt sie auf. Eine kindlich wirkende Frau, die mit der Kälte einer Veteranin gegen alle Gegner der AfD feuert: gegen Friedrich Merz, gegen Linke, gegen Grüne, gegen die EU. Sie erinnert an das blasse Mädchen mit den Zöpfen, das die Schule schwänzt, um gegen den Klimawandel zu demonstrieren: Greta Thunberg. Derselbe Typus, aber eine völlig andere Richtung.

Eine US-amerikanische Denkfabrik, das Heartland Institute, engagiert sie als Aushängeschild – als „Anti-Greta“. Nach drei Monaten wirft sie den Job hin. Sie sagt, wie eine Sprechpuppe hätte man sie verkauft. Dabei hätte sie ihre Texte schon damals alle selbst geschrieben. Natürlich auf Englisch.

Die „Anti-Greta“ der Rechten 

Elon Musk gefällt das. Er schreibt ihr. Sie chatten hin und her. Das Ende ist bekannt: Seibt gewinnt den Tech-Milliardär für ein Gespräch mit Alice Weidel auf seinem Nachrichtenportal X. „Musk-Flüsterin“, so man sie jetzt. Das Gespräch ist eher ein Geplänkel, aber es ist Bundestagswahlkampf. Für die AfD wird es zum PR-Coup.

Anruf bei Martin Renner. Der medienpolitische Sprecher der AfD lacht, wenn man ihn auf die „Musk-Flüsterin“ anspricht. Er sagt, er schätze ihre Arbeit. Aber das Musk-Weidel-Gespräch, das sei seine Idee gewesen. Er habe ihre Mutter gebeten, Naomi in die Spur zu schicken: Karoline Seibt, Rechtsanwältin, alleinerziehende Mutter zweier Töchter. Sie ist zwar nicht in der AfD, teilt aber deren Kampf gegen alles, was „woke“ ist. Auf X hat sie nur 333 Follower. Ihr Account ist ein Naomi-Fan-Account. Ihretwegen ist die Tochter dort, wo sie heute steht. 2017 ermutigte sie Naomi, einen Schulaufsatz auf einem in der neurechten Szene bekannten Blog zu veröffentlichen: „Nationalismus und moderne politische Rechte: Warnende Vorboten eines neuen Nationalsozialismus?“ Es ist ein glühendes Plädoyer für die Liebe zum eigenen Land.

Trump-Fan sei sie schon damals gewesen, erzählt Seibt am Telefon. „Bei ihm habe ich das Gefühl: Ihm ist es scheißegal, was die Medien über ihn sagen. Das Wichtigste für ihn sind Amerika und die Menschen.“ An ihrem katholischen Mädchengymnasium war sie der einzige Trump-Fan. Ihre Klassenkameraden hielten sie für „irre“.

Sie sei halt etwas autistisch, sagt sie. Das verbindet sie mit Elon Musk. Dank seiner Unterstützung hat sich die Zahl ihrer Follower verdreifacht. Und noch etwas ist jetzt anders. Ihre Videos werden auch vom „Deutschland-Kurier“ verbreitet, dem inoffiziellen Parteiportal der AfD. Hier setzt Björn Höcke den Ton, der Rechtsaußen. Hier darf er einen „Regime-Change“ propagieren. Neuerdings werden solche Inhalte auch ins Englische übersetzt.

Es läuft für Seibt. Sie hat eine Mission – der AfD an die Regierung zu helfen. Aber ihr Visum für die USA läuft ab. Sie könnte versuchen, ein Journalistenvisum zu bekommen. Doch als Influencerin braucht sie eine Story. Und die von ihrem Asylgesuch passte perfekt zur MAGA-Bewegung.

Seibt behauptet, ihre Nähe zu Musk habe einen hohen Preis gekostet: Hass. Sie hätte jetzt noch mehr Morddrohungen bekommen. „Für die Welt bin ich jetzt das Monster.“ Sie verspricht, Belege zu schicken. Die Antwort des Verfassungsschutzes auf eine Anfrage ihres Anwalts, ob der Geheimdienst ihr Telefon zumindest zeitweise abgehört hat. E-Mails von Antifa-Aktivisten, die ihr damit gedroht haben sollen, ihr den Schädel einzuschlagen. E-Mails und Strafanzeigen kommen an. Alle aus dem Jahr 2019. Auf die Unterlagen des Verfassungsschutzes wartet man vergeblich. Ihre Angst kauft man ihr trotzdem ab. Es ist die Angst vor dem Sturz in die Bedeutungslosigkeit.

Seibt benutzt die AfD, um sich als Vorkämpferin für Meinungsfreiheit zu positionieren. Im Oktober war sie vielen in der Partei zu forsch. Nicht einmal Fraktionsvizechefin Beatrix von Storch wollte die Frage beantworten, ob Seibts Asylgesuch gute oder schlechte Werbung für die AfD ist. Sie hat den besten Draht ins MAGA-Lager. Ihre Partei will sich der Trump-Regierung auf Augenhöhe nähern. Sie braucht sie als Verbündete. Denn was, wenn auf die AfD ein Parteiverbot zukommt? Eine AfD-Influencerin, die den Präsidenten um Asyl anfleht, lässt die Partei nicht gut aussehen.

Beatrix von Storch (hier mit Kommunikationsberater Steve Bannon und Ehemann Sven)Beatrix von Storch (hier mit Kommunikationsberater Steve Bannon und Ehemann Sven)

Aber jetzt hat sich das Blatt zugunsten von Seibt gewendet. Donald Trump hat der EU mit seiner nationalen Sicherheitsstrategie den Kampf angesagt und den rechten Parteien die Hand ausgestreckt. In Washington, D. C. gehen AfD-Abgeordnete bei den Republikanern ein und aus.

Dass sie von der Trump-Regierung umarmt werden, ist kein Zufall. Die US-Betreiber von X, Facebook oder TikTok stehen unter Druck. Gerade hat die EU eine Millionenstrafe gegen Elon Musk verhängt wegen mangelnder Transparenz. Auch die anderen Betreiber müssen damit rechnen, durch den sogenannten Digital Services Act stärker kontrolliert zu werden. Für die US-Regierung wäre das ein schwerer Schlag.

Die Tech-Bros sind ihre wichtigsten Verbündeten. Nicht ohne Grund hatte Elon Musk 277 Millionen Dollar in den US-Wahlkampf investiert. Vizepräsident J. D. Vance revanchierte sich, als er im Februar zur Münchner Sicherheitskonferenz reiste und behauptete, in Deutschland gebe es keine Meinungsfreiheit. „Es ist ein Narrativ, das die MAGA-Bewegung benutzt, um eine wirksame Regulierung der Digitalkonzerne zu verhindern“, sagt der Kommunikationsberater Johannes Hillje.

Naomi Seibt ist eine wichtige Waffe in diesem Kampf. Mit ihren Tweets befeuert sie den Streit. Sind ihre Chancen auf politisches Asyl jetzt gestiegen? Thomas Schwab, Anwalt für US-Einwanderungsrecht, glaubt das nicht. Er sagt, vor Gericht hätte sich bislang noch kein Deutscher politisches Asyl in den USA erstritten. Nur einer könne Seibt in einem Akt der Willkür helfen: Trump himself. Genau das scheint das Kalkül von Seibt zu sein. Die Migration einzudämmen, das ist eines der wichtigsten Ziele des US-Präsidenten. Im Gegenzug will er bevorzugt Europäer aufnehmen, die verfolgt werden, weil sie populistische Parteien unterstützen.

Seibt sagt, das sei ihre Chance gewesen. Der Notausgang, wenn man so will. Aber wer hat sich diese Story ausgedacht? Den Termin für das Interview mit FOCUS koordiniert Jane Owen. Wer sie googelt, findet eine PR-Agentur mit Sitz in L. A. und Niederlassungen in London, New York und Dubai. International bekannt „für kreative Kampagnen“ mit „maximaler Reichweite“. Es ist ihre Agentur. Aber wer bezahlt sie? „Ein libertärer Bekannter“, beteuert sie. Wer, will sie nicht sagen. Nur so viel: Musk sei es nicht.

Verifizieren lässt sich das nicht. Ist aber auch egal.

Im Amerika Donald Trumps zählt die Wahrheit nichts, nur die Story. Man versteht, dass sie dort nicht wieder wegwill. Es ist ein Ort, an dem Naomi Seibt die sein kann, die sie geworden ist: die Wunderwaffe der AfD.

Wie Trump Europa nach US-Vorbild ändern willWie Trump Europa nach US-Vorbild ändern willDas Beste zum Wochenende  

Im wöchentlichen Newsletter bekommen Sie spannende Lesetipps für das Wochenende. Mit dazugehörigen Hintergrundinformationen zu den Recherchen der Redakteurinnen und Redakteure von FOCUS und FOCUS MONEY. Jeden Freitag um 17 Uhr.

Zur Startseite