Willkommen im kleinen Haus des Dresdner Staatsschauspiels, auf der Bühne 3 – der ganz kleinen, ganz oben unter dem Dach. Wo an diesem Abend Sophie Y. Albrecht ihre Chance bekommt. Sie ist jung, sie hat hier in Dresden bislang als Regieassistentin gearbeitet und darf nun mal richtig ran.

Mit kleiner Mannschaft und einem großen Stück: „Toto oder vielen Dank für das Leben“. Ursprünglich ein Roman von Sibylle Berg, den die Autorin selbst für die Bühne adaptiert hat. Uraufführung im vergangenen Jahr am Wiener Burgtheater – großes Ensemble, große Bühne, große Show.

Zurück nach Dresden und unters Dach. Wo uns eine gerade mal vierköpfige Truppe empfängt. Josephine Tancke und Alexander Diosegi sind die Jungen. Sie sind noch relativ neu im Ensemble, er ist Student im Schauspielstudio. Betty Freudenberg und Raiko Küster gehören zum gestandenen Personal des Hauses. Zusammen sind sie ein Team. Ein gutes, ein spielfreudiges, das mit der Regisseurin an einem Strang und das Publikum in seinen Bann zieht. Für anderthalb Stunden – Spielfilmlänge.

Der Osten ohne Nazis?

„Willkommen im deutschen Osten, wo es keine Nazis gibt“, heißt es am Anfang. Ob das stimmt? Das Stück beginnt in den 60er-Jahren, irgendwo im mecklenburgischen Norden der Deutschen Demokratischen Republik.

Die Bühnenbildnerin Pauline Malack hat eine dystopische Landschaft auf die Bühne gestellt: Ein rudimentäres eisernes Ost-Klettergerüst, ein altes Klavier, ein Krankenhausbett, ein paar mobile Wände, eine Eros-Palast-Leuchtreklame. Denn das Spiel wird in der Freiheit, der großen, auf der Hamburger Reeperbahn enden.

Was für eine Geschichte wird hier eigentlich erzählt? Von Toto und seinen drei Begleitern. Denen die Kostümbildnerin Chiara Schmidt expressive Barock-Outfits verpasst hat und die alles spielen, was außer Toto auf dem Besetzungszettel steht. Der guckt mit großen naiven Augen etwas zeitgenössischer aus der Wäsche. Und ist auch sonst ganz anders.

Intergeschlechtlichkeit in der DDR

Ein intergeschlechtlicher Mensch. Hineingeboren in die DDR der 60er-Jahre. Die er, von der überforderten Mutter schnell verlassen, in einem Heim und später im Kuhstall seines Pflegevaters durchlebt. Dabei kaum Gutes und vor allem keine Liebe erfährt.

Wobei – ganz kurz kommt Toto Kasimir näher. Auch so einer aus dem Heim. Zwei Schicksalsmenschen, die sich immer wieder begegnen werden auf ihrer Reise durch ihre Lebenszeit. Eine surreale Tour ist das durch die Realität der deutsch-deutschen Geschichte von Anfang der 60er bis ins Heute. Ein Simplicissimus der Neuzeit ist da unterwegs. Ein Mensch mit ganz eigenem Koordinatensystem, der dem Rest der Welt seinen Spiegel vorhält. Und dieser Rest kommt dabei nicht gut weg.

Eine surreale Tour ist das durch die Realität der deutsch-deutschen Geschichte von Anfang der 60er bis ins Heute.

Wolfgang Schilling, MDR KULTUR-Theaterkritiker

Sibylle Berg und auch die Inszenierung von Sophie Y. Albrecht lassen uns tief blicken und am Ende eins erkennen: Eigentlich sind all die Dilemmata unseres kleinen, alltäglichen Lebens und auch die des großen Ganzen hausgemacht. Von Menschen, die ihre Menschlichkeit aus den Augen verloren haben. Toto sieht das anders, und deshalb bleibt er ein Mensch. Bis an sein Ende. „Ich freu mich auf die Ruhe, nach all dem Gelebe“, gibt er uns als Trost mit auf den Weg. Und die Bitte, dass wir nicht um ihn weinen sollen.

Ein kleines Kunstwerk

Josephine Tancke spielt diesen Toto mit kindlicher Naivität und beeindruckenden musikalischen Ausbrüchen. Im Kuh-Stall-Song, mit Mikro an der Mistgabel, zieht sie, auch tänzerisch, komische Saiten auf. Später geht’s in Richtung Nina Hagen. Und wenn sie am Klavier ihre Bilanz zieht, könnte man fast schon an Georg Kreisler denken.

Diese junge Darstellerin hat’s drauf und wird von ihren drei Partnern – Betty Freudenberg, Alexander Diosegi und Raiko Küster – in deren vielen Rollen auch glänzend begleitet. Viel Applaus zur Premiere. Danke für ein kleines Kunstwerk. Mit dem man sich vor der großen Show am Wiener Burgtheater nicht verstecken muss.