Die Veröffentlichung der neuen amerikanischen Nationalen Sicherheitsstrategie hat eine grundlegende Spannung in den Fokus gerückt, die bereits vor Amtsantritt von Präsident Donald Trump schwelte: die vermeintliche Übereinkunft zwischen den Vereinigten Staaten und Europa, dass das aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangene geopolitische System von Dauer sein sollte. Die Nationale Sicherheitsstrategie besagt im Wesentlichen, dass diese geopolitische Beziehung überholt ist, was zu dem Eindruck führt, dass die USA Europa verraten haben. Darin liegt die Krise Europas. In der Annahme, dass die Sicherheitsgarantien der USA ein dauerhaftes Merkmal der globalen Geopolitik seien, hat der Kontinent insgesamt wenig unternommen, um seine eigene Sicherheit zu gewährleisten.
Die Garantien der USA waren eine direkte Folge des Zweiten Weltkriegs. Nach 1945 besetzte die Sowjetunion Osteuropa und installierte dort kommunistische Regime. Die USA und ihre britischen Verbündeten besetzten Westeuropa und schufen dort verschiedene demokratische Systeme. Durch diese Teilung war Westeuropa extrem anfällig für militärische Aktionen der Sowjetunion.
Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg
Die USA wollten nicht, dass die Sowjets die Kontrolle über Westeuropa übernahmen – was Moskau nach 1945 leicht hätte tun können –, zum Teil aus ideologischen Gründen. Der westliche Kapitalismus stand in direktem Widerspruch zum sowjetischen Kommunismus. Aber sie lehnten die Sowjetunion auch aus strategischen Gründen ab. Die Grundlage der nationalen Sicherheit der USA (überzeugend dargelegt vom Strategen Alfred Thayer Mahan) war die Kontrolle über den Atlantik und den Pazifik. Die USA selbst waren in der westlichen Hemisphäre keinen militärischen Bedrohungen ausgesetzt; die einzige Gefahr lag eine halbe Welt entfernt. Man erinnere sich daran, dass die USA erst in den Ersten Weltkrieg eintraten, als deutsche U-Boote die Lusitania versenkten. Der Tod der an Bord befindlichen Amerikaner löste natürlich eine emotionale Reaktion aus, aber ebenso wichtig war, dass dadurch die Bedrohung durch Deutschland im Atlantik in den Vordergrund rückte. Die britische Marine hatte den Atlantik bereits gesichert, aber ohne die USA zu bedrohen oder ihren Handel zu beeinträchtigen. Deutschlands Seestrategie hätte, wenn sie erfolgreich gewesen wäre, ein wirtschaftliches Problem geschaffen, da Washington nicht davon ausgehen konnte, dass Berlin einen ungehinderten Handel zulassen würde. Daher schlossen sich die USA den Kriegsanstrengungen an.
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Der Zweite Weltkrieg – in gewisser Weise lediglich eine Fortsetzung des Ersten Weltkriegs – stellte das gleiche Dilemma dar. Wenn Deutschland Großbritannien besiegen würde, könnte die deutsche Marine (die nun im Besitz britischer Vermögenswerte wäre) den Atlantik als Geisel nehmen. Sie könnte den Atlantik sogar dazu nutzen, um das amerikanische Festland zu erobern. Das Leih- und Pachtgesetz basierte auf diesem Dilemma. Das Abkommen sah vor, dass die USA nicht in den Krieg eintreten, aber Großbritannien bei der Bewaffnung unterstützen würden, damit es Deutschland besiegen und so seine maritime Vorherrschaft behaupten konnte. Entscheidend war, dass das Leih- und Pachtgesetz auch eine geheime Garantie enthielt: Sollte Großbritannien besiegt werden, würde seine Marine nicht in deutsche Hände fallen, sondern nach Kanada fahren und die USA schützen.
Der Angriff auf Pearl Harbor
Dann kam der Angriff auf Pearl Harbor. Japan schien bereit, die Kontrolle über den Pazifik zu übernehmen, und einen Tag später erklärte Berlin den USA den Krieg. Damit stand Amerika vor einem Krieg auf zwei Ozeanen, was die Vorstellung zunichtemachte, dass die Gewässer die USA vor Angriffen schützten. Die Herrschaft über die Meere war nun nicht mehr eine passive Realität der Entfernung, sondern eine Frage der strategischen Zweckmäßigkeit.
So sah die strategische Grundlage des Kalten Krieges aus Sicht der USA aus. Nachdem die Amerikaner gleichzeitig mit Bedrohungen im Atlantik und im Pazifik konfrontiert waren und versucht hatten, eine Beteiligung am Krieg zu vermeiden, erkannten sie, dass sie eine ständige Streitmacht unterhalten mussten, die beide Ozeane beherrschen konnte.
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Dieses Prinzip prägte auch die Opposition der USA gegenüber der Sowjetunion. Hätte Moskau Westeuropa besetzt, hätte es die westeuropäischen Häfen am Atlantik kontrolliert. Hätten die Sowjets eine angemessene Seestreitmacht aufgebaut, hätten die USA eine weitere existenzielle Bedrohung zu bewältigen gehabt. Die Sowjets daran zu hindern, Westeuropa zu erobern, war daher eine grundlegende strategische Notwendigkeit. In dieser Hinsicht war das Engagement Washingtons für Europa ein moralisches, ideologisches und strategisches Projekt. Das Konzept der gegenseitigen gesicherten Zerstörung machte einen Atomkrieg unwahrscheinlich, aber ein konventioneller Krieg war immer möglich. Die Sicherheit Europas zu garantieren, war vor diesem Hintergrund weitaus einfacher, als sich auf einen möglichen Seekrieg um die Vorherrschaft im Atlantik einzulassen. Und so war Washington gern bereit, die Konzepte der Nato und anderer kollektiver Institutionen zu fördern. Angesichts der Verwüstung Westeuropas, die es wirtschaftlich ruiniert und militärisch machtlos zurückließ, mussten die USA eine neue strategische Realität schaffen. Daher der Einsatz großer Streitkräfte in Westeuropa und die finanzielle Unterstützung, um Europa wirtschaftlich überlebensfähig zu machen.
In der Ukraine endete der Kalte Krieg
Diese Realität blieb auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bestehen. Aber sie hat die russische Invasion in der Ukraine nicht überlebt. Die Invasion war zweifellos ein Fehlschlag. Russland hatte vor, die gesamte Ukraine zu besetzen, konnte jedoch nur einige Gebiete im Osten einnehmen. Aus Sicht der USA hat der Krieg nichts weniger als die militärische Zurückgebliebenheit Russlands gezeigt. Und wenn das russische Militär überholt ist, dann sind es auch die Sicherheitsgarantien der USA für Europa. Einfach ausgedrückt: In der Ukraine endete der Kalte Krieg endgültig.
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Natürlich gibt es eine parallele Dimension zu dieser neuen Realität. 1945 war Europa wirtschaftlich nicht in der Lage, sich selbst zu verteidigen. Das ist heute nicht mehr der Fall. Im Jahr 2024 belief sich das Bruttoinlandsprodukt der Europäischen Union auf etwa 19 Billionen Dollar – insgesamt mehr als das BIP Chinas. Dass die EU kein Geld für Verteidigung ausgeben wollte, bedeutet, dass sie die Überflüssigkeit der Garantien der USA nicht anzuerkennen bereit war. Die Annahme, dass Washington Europa im Stich lässt, setzt voraus, dass die USA eine dauerhafte Verpflichtung zur Verteidigung Europas hatten, selbst wenn keine ideologische, militärische oder wirtschaftliche Bedrohung bestand. Russland könnte in Zukunft durchaus zu einer Bedrohung werden, und wenn das der Fall ist, hat Europa noch Zeit, sich auf seine Verteidigung vorzubereiten.
Es gibt kein Land namens „Europa“
Das Problem ist, dass es kein Land namens „Europa“ gibt. Die Europäische Union besteht aus 27 souveränen Staaten. Diese Nationen sprechen verschiedene Sprachen, haben unterschiedliche Kulturen und hegen seit jeher Misstrauen gegeneinander. Wenn die Frage „Was wird Europa tun?“ gestellt wird, wird davon ausgegangen, dass Europa eine Einheit ist, die Entscheidungen für alle Mitglieder trifft. Tatsächlich war und ist Europa jedoch nur ein Kontinent, eine Abstraktion im Atlas. Die einzelnen europäischen Länder sind im Vergleich zum Kontinent als Ganzes relativ schwach und bestehen aus ehemaligen und potenziell zukünftigen Feinden, die ein altes und feindseliges geopolitisches System verschiedener wirtschaftlicher und militärischer Mächte bilden. Diese Nationen müssten sich weitgehend zu einem einzigen Staat zusammenschließen, in dem jedes Land als Provinz mit einem gewissen Maß an Autonomie organisiert ist und über eine Zentralregierung und eine Legislative verfügt – doch dazu sind sie nicht in der Lage. Europa scheint darüber hinaus nicht einmal in der Lage und auch nicht willens zu sein, ein gemeinsames Militär aufzubauen, das unter dem Kommando einer Zentralregierung steht, die für das Ganze spricht und im Namen anderer Nationen handelt.
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Dies ist die Grundlage der europäischen Krise. Während die Vereinigten Staaten ein nationales geopolitisches Interesse daran hatten, Europa zu verteidigen (obwohl Europa es versäumt hatte, ein System zu schaffen, mit dem es sich selbst schützen konnte), ignorierte Europa zwei grundlegende Tatsachen. Die erste ist, dass sich die Beziehungen zwischen den europäischen Nationen mit dem Wandel der geopolitischen Realitäten verändern. Die zweite ist, dass die europäischen Nationen grundlegende und weitgehend kollektive Entscheidungen darüber treffen müssten, was es bedeutet, Europäer zu sein: Ist Europa einfach ein Kontinent mit kleinen, misstrauischen Nationen, oder würden sich seine Nationen zu einem multinationalen Staat zusammenschließen, dessen gemeinsame Schicksale wirtschaftlich und militärisch miteinander verbunden sind und der unterschiedliche Interessen überwindet? Wenn Letzteres zuträfe, würde seine Wirtschaft weltweit an zweiter Stelle stehen, und angesichts seiner Bevölkerungszahl wäre es in der Lage, eine Armee aufzustellen, die russische (oder andere) Bedrohungen leicht abwehren könnte.
Die Europäer müssen sich entscheiden
Europas Antwort auf diese Frage war die Gründung der Europäischen Union, einer wirtschaftlichen Einheit, die lockerer organisiert ist als eine einzelne Volkswirtschaft und völlig unabhängig von einem Militärbündnis ist. Europa hat erkannt, dass einzelne Staaten keine wichtigen Akteure in einem internationalen System sein können, insbesondere wenn sie ihre eigenen, oft unvereinbaren Ziele verfolgen.
Wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, an dem Europa als Ganzes entscheiden muss, was es sein will. Untätigkeit ist sicherlich auch eine Entscheidung. Der Kontinent sollte erkennen, dass „Europäer sein” eine bedeutungslose Phrase ist, wenn Europa lediglich der Name einer von Natur aus verwundbaren und instabilen geopolitischen Region ist. Oder er kann sich dafür entscheiden, selbst eine Großmacht zu sein. Die Geschichte zeigt, dass das wahrscheinlichste Ergebnis darin besteht, dass Europa so weitermacht wie bisher und zu einem hoch gefährdeten Gebilde wird: reich, aber schwach und verwundbar. Das war die Ausgangslage am Ende des Zweiten Weltkriegs, und es ist die Frage, die Europa seitdem nicht beantworten will. Jetzt, da sich die Interessen der USA geändert haben, steht Europa vor der Krise, der es seit 80 Jahren auszuweichen versucht.
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Ich vermute, dass die Europäer leugnen werden, dass es eine Krise gibt, oder, wenn sie sie anerkennen, dennoch nichts dagegen tun. Für die Vereinigten Staaten, die in zwei europäischen Kriegen gekämpft und im Kalten Krieg Wache gestanden haben, ist eine Loslösung von Europa unerlässlich – und doch ist es angesichts der Bedeutung des Atlantischen Ozeans möglich, dass die Vereinigten Staaten sich in Zukunft wieder engagieren müssen. Gleichzeitig könnte ein Rückzug die Europäer jetzt zu etwas zwingen, was unwahrscheinlich ist: ihre eigene Situation durch einen Zusammenschluss zu rationalisieren. Europa muss sich der Tatsache stellen, dass Allianzen Wahlverwandtschaften sind. Vereinigte Staaten im Wortsinn sind weitaus stabiler.

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