
Lange Zeit ließ sich die Tradition des britischen Geheimdienstes mit der bloßen Existenz seiner Dienste zusammenfassen: Offiziell existierten sie nicht. Doch im letzten Jahrzehnt hat London eine radikale kulturelle Revolution vollzogen und ist vom Kult der Geheimhaltung zu einer Strategie der „offensiven Transparenz“ übergegangen.
Während Frankreich bei der Zuordnung von Angriffen bisweilen diskret bleibt, hat sich das Vereinigte Königreich entschieden, seine Bevölkerung zu informieren, um sie zu stärken. Ken McCallum, der Chef des MI5, den wir in unserem vorangegangenen Dossier über Dänemark zitierten, hatte bereits das Eis gebrochen, indem er die inneren Bedrohungen auf britischem Boden offenlegte.[01]

Heute ist es am MI6 (SIS), ins Licht zu treten. Es hat bis Dezember 2025 gedauert, bis die Realität endlich die Fiktion einholte. Zwar wagte es das Kino bereits 1995 (GoldenEye), eine Frau – die legendäre Judi Dench – auf den Chefsessel zu setzen, doch der echte Geheimdienst Ihrer Majestät hinkte Hollywood dreißig Jahre hinterher.
Blaise Metreweli — Photo SIS
von Joël-François Dumoint — Paris, den 16.Dezember 2025
Mit der Ernennung von Blaise Metreweli zum Secret Intelligence Service zu „C“ – ein Initial, das vom allerersten Chef, Mansfield Cumming, stammt, der seine Notizen mit grüner Tinte unterzeichnete, den Leser von John le Carré jedoch lieber „Control“ nennen – ist die gläserne Decke zersplittert.[02] Doch täuschen wir uns nicht: Auch wenn sich die Besetzung ändert, ist das Drehbuch weitaus düsterer geworden als jedes Skript der 007-Reihe.
Abschreckung in 4 Schritten — Illustration © European-Security
« Die Wahrheit lauter auszusprechen als die Lüge »
„Die Welt steht nicht am Rande des Chaos, sie befindet sich bereits mittendrin. Unser größter Fehler wäre zu glauben, wir befänden uns noch in Friedenszeiten.“
„Für den Kreml ist die Unordnung auf unseren Straßen kein Kollateralschaden, sondern ein operatives Ziel. Das Chaos ist ein Feature, kein Bug.“
„Heute muss ein Führungsoffizier mit Codezeilen genauso vertraut sein wie mit menschlichen Quellen, in Python genauso fließend wie in Fremdsprachen.“
1. Die Frontlinie ist überall
In ihrer ersten öffentlichen Ansprache beerdigt Blaise Metreweli endgültig das binäre Weltbild des 20. Jahrhunderts. Sie theoretisiert den Eintritt des Westens in ein „Zeitalter der Ungewissheit“, in dem sich die Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden verflüchtigt hat.[02]
« Die Frontlinie ist überall » — Illustration © European-Security
Die Frontlinie verläuft nicht mehr nur durch die Ebenen des Donbass; sie führt durch einen Computerserver in der City of London, ein Forschungslabor in Cambridge oder ein Unterseekabel in der Nordsee. Wir befinden uns in einem Zustand permanenten, aber diffusen Konflikts, in dem der Gegner Hybridität nutzt, um unsere klassischen Verteidigungslinien zu umgehen.
2. Russland: Chaos als Staatsdoktrin
Die Analyse der russischen Bedrohung ist von seltener Schärfe. Metreweli beschreibt kein Russland, das lediglich versucht, in der Ukraine Boden zu gewinnen, sondern einen „aggressiven und revisionistischen“ Staat, dessen Ziel es ist, den Zusammenhalt der westlichen Gesellschaften von innen heraus zu brechen.[02]
„Der Einsatz von Drohnen ist kein Einzelfall“ – KI-Illustration © European-Security
Brandanschläge in Europa, Sabotage an Infrastrukturen und Drohnenflüge, die die zivile Luftfahrt bedrohen, sind keine isolierten Taten, sondern Teile einer großen Destabilisierungsstrategie.[03]
Die Botschaft an jene, die versucht wären, den Konflikt einzufrieren, ist klar: Putin sucht nicht den Frieden, sondern die Unterwerfung.
3. China und Tech: Die systemische Herausforderung
Wenn Russland der unmittelbare Sturm ist, repräsentiert China den Klimawandel. Die Rede verlagert den Fokus der Aufklärung auf die Technologie als zentrales Schlachtfeld. Die nationale Sicherheit hängt nun davon ab, wer künstliche Intelligenz und Quantencomputing beherrscht.[02] Der MI6 vollzieht einen Wandel: Es geht nicht mehr nur darum, die Geheimnisse anderer zu stehlen, sondern britische und europäische Innovationen gegen systematischen Diebstahl geistigen Eigentums zu schützen.[04]
4. Der Kampf um die Deutungshoheit und das Ende des Monopols
Das Hauptquartier des MI5 in London (Vauxhall Cross) – Illustration © European-Security
Schließlich räumt „C“ eine neue Demut ein: 80 % der relevanten Informationen sind heute Open Source (OSINT).[02] Der Mehrwert des Dienstes besteht nicht mehr darin, alles zu wissen, sondern das Signal im Rauschen zu finden. Sie betont zudem die Notwendigkeit, den „Globalen Süden“ zurückzugewinnen, wo Russland und China einen effektiven Verführungskrieg führen, indem sie die NATO als Aggressor darstellen. Der MI6 muss wieder zu einer Einflussagentur werden, um „die Wahrheit lauter auszusprechen als die Lüge“.[02]
Joël-François Dumont
Quellen
01] European Security, « Dänemark: In Putins Fadenkreuz », 15 décembre 2025.
[02] GOV.UK, « Speech by Blaise Metreweli, Chief of SIS », 15 December 2025.
[03] The Guardian, « Russian sabotage operations across Europe: a timeline », 2025.
[04] Financial Times, « MI6 Chief warns of Chinese data traps », December 2025.
[05] RUSI Analysis, « From Secrets to Spotlight: The evolution of British Intelligence », 2025.
Siehe auch:
Entschlüsselung : Die Ära der „Abschreckung durch Enthüllung“
„Ich war bereit, die Drohne im Wohnzimmer und den russischen Bären unter dem Teppich zu tolerieren, aber eine Frau, die ‘Control’ ersetzt? Die Welt geht vor die Hunde, mein Lieber. Ich brauche einen zweiten Earl Grey, um diese Revolution zu verdauen.“
Die Rede von Blaise Metreweli besiegelt eine neue westliche Doktrin: die Abschreckung durch Enthüllung (Deterrence by Disclosure).
Früher diente der Geheimdienst dazu, politische Entscheidungsträger in der Stille der Hinterzimmer zu informieren. Heute dient er dazu, die öffentliche Meinung zu wappnen.[5] Indem der MI6 russische Sabotagepläne oder chinesische Technologieambitionen öffentlich macht, versucht er, gegnerische Operationen „auffliegen zu lassen“ (to burn), bevor sie Früchte tragen.
« UK is Back » , James !
Diese Rede markiert auch die Rückkehr des Vereinigten Königreichs als „Wachturm“ Europas. Trotz Brexit erinnert London seine kontinentalen Nachbarn – allen voran Berlin – daran, dass Sicherheit unteilbar ist.
Die Ernennung einer Frau auf diesen Posten ist nicht anekdotisch: In einer Welt, in der sich maskuline rohe Gewalt (russische Hard Power) durchzusetzen versucht, setzt Metreweli eine fluide, anpassungsfähige und technologische Intelligenz dagegen.
Judi Dench au Royal Opera House à Londres. (So British !) — Photo Caroline Bonarde Ucci

Blaise Metreweli warnt uns: Der hybride Krieg zielt nicht nur auf unsere Infrastrukturen, sondern auf unseren Geist.
Die einzige nachhaltige Verteidigung ist nicht die Spionageabwehr, sondern die Mündigkeit der Bürger. Wie John le Carré sagte, ist das Spionagebüro ein Spiegelbild der Gesellschaft, die es verteidigt; diese Rede fordert uns auf zu wählen, welche Gesellschaft wir verteidigen wollen.
