Das EU-Freihandelsabkommen mit den Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay könnte in letzter Minute an Frankreich scheitern. Präsident Emmanuel Macron will verhindern, dass EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wie geplant zur feierlichen Unterzeichnung des Abkommens zum Ende der Woche nach Brasilien fliegt. Angesichts der anschwellenden Bauernproteste in seinem Land hat Macron einen Aufschub verlangt.
Der Präsident habe am Montagabend in Berlin Bundeskanzler Friedrich Merz wie auch von der Leyen eindringlich darauf hingewiesen, dass das Abkommen in der jetzigen Form inakzeptabel sei, teilte der Élysée-Palast am Dienstag mit. Die Schutzklauseln für die einheimische Produktion wie auch die vorgesehenen Kontrollen reichten nicht aus.
Gefürchtete Konkurrenz aus Lateinamerika
Frankreich befürchtet, der Konkurrenz aus Lateinamerika bei Rinder-, Schweine- und Hühnerfleisch, Milchprodukten, Käse, Honig, Zucker und Reis nicht standhalten zu können, da die heimischen Bauern wesentlich strengere Auflagen beim Einsatz von Futtermitteln, Medikamenten sowie bei Dünger und Schädlingsvernichtungsmitteln beachten müssen.
Macron, eigentlich ein Freihandelsbefürworter, treibt zudem die Sorge um, dass der Regierung unter Premierminister Sébastien Lecornu die Kontrolle entgleitet, sollte die Unterzeichnung die Wut der Landwirte weiter schüren. Er hatte das EU-Handelsabkommen mit Kanada durch das Parlament geboxt, aber damals verfügte sein Parteibündnis über die absolute Mehrheit.
Kein Verlass auf die Christdemokraten
Auf die französische Schwesterpartei von CDU/CSU, die Republikaner (LR), ist in Sachen Freihandel kein Verlass. Der Republikaner-Vorsitzende Bruno Retailleau ist ein entschiedener Gegner des Mercosur-Abkommens und verlangt von Macron, sich gegen den Abschluss zu stemmen. Der Präsident ist auf die Unterstützung der rechtsbürgerlichen Partei angewiesen.
Bereits jetzt ist die Lage aufgeheizt und die Regierung sichtlich nervös. Der Premierminister hat am Dienstag eine Krisensitzung einberufen. Es mehren sich Protestaktionen. Gleich fünf Autobahnen sind auf weiten Strecken blockiert. Auch Züge wurden aufgehalten. Im Süden und Südwesten des Landes kommt es zu teils gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Bauern und Polizeikräften.
Vordergründig richtet sich der Unmut gegen die europäischen Vorschriften zur Eindämmung der Rinderseuche Lumpy Skin Disease. Frankreich hat aus Kostengründen bislang auf Massenimpfungen der Tiere verzichtet und verpflichtet Rinderzüchter, bei einem Fall auf ihrem Hof ihren gesamten Rinderbestand zu töten. Dabei kommt es zu dramatischen Szenen. Zwangsverpflichtete Tierärzte müssen unter Polizeischutz Rinder keulen. Mehrere Veterinäre haben Morddrohungen erhalten, die Justiz ermittelt.
Die Malaise der Landwirtschaft reicht tiefer
„Hört auf, unsere Tiere zu töten“, forderte eine Sprecherin des Bauernverbandes Confédération Paysanne. Impfungen und PCR-Tests seien eine bessere Lösung. Der bürokratische Umgang mit der Rinderseuche ist für viele Landwirte ein weiteres Zeichen, dass die Politik – wie beim Mercosur-Abkommen – über ihre Köpfe hinweg entscheiden will. Die Malaise der französischen Bauern reicht jedoch tiefer. Sie stöhnen über EU-Auflagen, Bürokratie und Einkommensverluste. Ihr Protest richtet sich zudem gegen Pläne der EU-Kommission, die Subventionen im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik zu kürzen.
Den EU-Erweiterungsversprechen können sie noch weniger abgewinnen. Wenn ein Agrarland wie die Ukraine der EU beitreten sollte, sei Frankreichs Agrarmodell am Ende, heißt es. In der politischen Debatte kommen die Rufe nach nationaler Rückbesinnung gut an. Seit dem Nein zum europäischen Verfassungsvertrag 2005 ist das Unbehagen über die EU gewachsen.
Der Rückhalt für die Bauernproteste ist in der Gesellschaft breit. Die Landwirte üben großen Einfluss auf die Politik aus, der weit über ihrem wirtschaftlichen Gewicht liegt. Die landwirtschaftliche Produktion und die Lebensmittelindustrie tragen 3,5 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei.
Missverhältnis zwischen wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Rang
Dennoch kommt der Landwirtschaft ein eminenter symbolischer und emotionaler Wert zu. Das liegt vor allem an der Bedeutung, die gutem Essen und Trinken in der Breitenkultur beigemessen wird. Gegen schlechten Fraß ist die Nation vereint.
Im Kino trugen Filme wie „Goliath“ oder „Kleiner Bauer“ dazu bei, Verständnis für den Überlebenskampf kleiner Landwirte zu wecken. Die Selbstmordrate von Bauern liegt 46 Prozent über dem Durchschnitt.
Zugleich bewegt der Traum vom Landleben viele Franzosen. Im Herzen versteht sich Frankreich weiterhin als Bauernstaat. Zur Landwirtschaftsmesse in Paris jeweils im Februar pilgern nicht nur Familien mit ihren Kindern. Der Rundgang gehört für jeden Politiker zum Pflichtprogramm.
Marine Le Pen weiß, wen sie streicheln muss
Nur wer beherzt Rinderrücken zu streicheln vermag, hat Aussichten auf das höchste Staatsamt. Marine Le Pen hat sich unzählige Male mit der Limousine-Kuh Oupette ablichten lassen, dem Maskottchen der Landwirtschaftsmesse 2025. Der Unmut über das Mercosur-Abkommen, das sie stets kritisiert hat, dürfte ihrer Partei zugutekommen.
Die Ablehnung geht aber über parteipolitische Grenzen hinaus. Mehr als 600 Parlamentarier unterschiedlicher politischer Richtungen haben kürzlich in einem offenen Brief in „Le Monde“ geschrieben, dass der Vertragstext die von der Nationalversammlung und dem Senat festgelegten demokratischen, wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Kriterien nicht erfülle. Sie berufen sich darin auf einen im Oktober veröffentlichten Bericht der EU-Kommission, wonach nicht garantiert werden könne, dass brasilianisches Rindfleisch nicht das in der EU verbotene Wachstumshormon Östradiol enthalte.