Ein Blick zurück ins Stuttgart der 60er: Ein Zeitzeuge erinnert sich an die Villa der Etzelstraße vor der Hausbesetzung, an Freundschaft, Unbeschwertheit und an einen Stuntman.
Oft sind es überraschende Zuschriften oder Fotos, die ein längst abgeschlossen geglaubtes Kapitel der Stadtgeschichte plötzlich in ein neues Licht tauchen. So geschehen nach unserem Artikel über die Etzelstraße 15 – jene markante Jugendstilvilla am Bopser, die 1971 zum Schauplatz der ersten Hausbesetzung Stuttgarts wurde, zum Politikum geriet und kurz darauf einem Abriss zum Opfer fiel, den viele bis heute als städtebauliches Fanal begreifen.
Nach der Veröffentlichung in unserer Zeitung erreichte uns nicht nur die bewegende Nachricht aus Leeds („Die tschechische Familie, das waren wir“), sondern nun auch ein weiterer Brief, der uns in eine Zeit zurückführt, die vor den politischen Verwicklungen lag – und zeigt, dass die Villa einst ein Ort voller Leben und Leichtigkeit war.
1969 kam Lutz Berlin zum ersten Mal in die große Villa
Der Absender Lutz Berlin lebt heute in München. Doch als er unsere Artikel las, stand er gedanklich wieder im Frühjahr 1969 auf dem parkähnlichen Hanggrundstück der Etzelstraße 15. Damals war er Lehrling an der Mozartstraße, ein Teenager – und tief beeindruckt, als ihn ein Kollege erstmals in die große Villa führte.
„Ich war überwältigt“, schreibt er, „von der wunderschönen Architektur, der noblen Innenausstattung mit Holztäfelungen und dem weitläufigen Garten.“
Im Hochparterre und im Souterrain befanden sich damals eine Betreuungsstelle und ein Jugendclub des Spastikervereins. „Hier arbeitete die Geschäftsführerin, Frau Schlegel“, erinnert sich Lutz Berlin. . Was jedoch kaum bekannt war: Die Räume verwandelten sich abends und am Wochenende in einen privaten Treffpunkt – nicht für die betreuten Jugendlichen, sondern für die Clique der beiden Schlegel-Söhne, Peter und Thomas.
Und so wurde die Villa zum lebendigen Szenetreff der späten 60er-Jahre.
Geschützter Raum in einer Zeit zwischen Aufbruch und Orientierungssuche
Etwa 20 Jugendliche gehörten zur regelmäßigen Runde. Sie trafen sich zum Tischtennis, zum Proben im kleinen Übungsraum mit Klavier – wo unter anderem Frank Zimmerle spielte, Sohn des Jazz-Publizisten Dieter Zimmerle. Auch Musiker wie Andy Göldner, damals Bassist der Band Five-Fold Shade, später bei Ex-Magma, schauten gelegentlich vorbei.
Die Erinnerungen des Lesers Lutz Berlin sind bunt und warm: ausgelassene Nachmittage, lange Gespräche, spontane Musik – ein geschützter Raum in einer Zeit zwischen Aufbruch und Orientierungssuche.
Jugendliche in der Villa an der Etzelstraße. Foto: Lutz Berin
Im Garten tauchte immer wieder Marian auf, ein junger tschechischer Automechaniker, der nach dem niedergeschlagenen „Prager Frühling“ mit weiteren Familien im Obergeschoss der Villa lebte. Auf einigen Fotos posiert er als „Stuntman“. Marian hielt den klapprigen Simca von Peter Schlegel am Laufen – und brachte viel Humor in die Runde.
Die Szene-Kneipe Brett war ein beliebter Treff
Abends zog es Teile der Clique oft weiter ins „Brett“, jene legendäre Szene-Kneipe der späten Sechziger, ein Ort mit toleranter Atmosphäre und günstiger Küche. Für viele wurde sie zu einem sozialen Wohnzimmer der Generation zwischen Schülerdemos und Rockmusik.
Doch gegen Ende 1970 begann der Ort sich zu verändern. „Die Villa war zu einer Art Geheimtipp geworden“, erinnert sich Lutz Berlin. Immer mehr Menschen wollten hinein. Nicht nur Freunde der Clique, sondern auch Fremde, die einen Platz zum ungestörten Kiffen suchten – oder Aktivisten, die das Gebäude nach Bekanntwerden der Abrisspläne als politisches Symbol entdeckten.
Die Stimmung kippte. Familie Schlegel, überfordert von der Entwicklung, schloss den Treff. Der Spastikerverein zog in die Alexanderstraße um. Unser Leser kehrte nicht zurück. Von der späteren Hausbesetzung und dem Polizeieinsatz erfuhr er nur aus der Zeitung.
Der Tag, an dem die Bagger kamen
Was ihn jedoch ein Leben lang begleiten sollte, war der Moment des Abrisses. „Ich hatte davon in der Zeitung gelesen und ging in meiner Mittagspause hin“, schreibt er. „Der Anblick war schmerzlich. In Anwesenheit vieler Zuschauer taten die Bagger ihre Arbeit. Das Haus war bereits zur Hälfte zerstört. Ich ertrug es nicht und verließ den Ort nach wenigen Minuten.“
Besonders bitter: Das geplante Hotel, das angeblich nötig war und die Villa verdrängte, wurde nie gebaut.
Bemerkenswert ist die Genauigkeit, mit der sich die Erinnerungen unseres Lesers mit den Schilderungen von Axel Deubner decken, dem Aktivisten der Hausbesetzung von 1971. Beide berichten von den tschechischen Familien im Obergeschoss – darunter jener Familie, deren Tochter uns später aus Leeds schrieb und bewegend schilderte, wie unfreiwillig sie damals ausziehen mussten.
Axel Deubner am Zaun der Etzelstraße. Foto: LICHTGUT
Mehr als 50 Jahre sind vergangen. Trotzdem bleibt für Lutz Berlin die Zeit in der Etzelstraße 15 „unauslöschlich“. Zwei Jahre Jugend, die sich in ein markantes Gebäude einschrieben – und in ein Herz.
Was das Stuttgart-Album ausmacht
Die Zuschrift aus München zeigt mal wieder, was unser Stuttgart- Album ausmacht: Stadtgeschichte entsteht nicht nur durch Bauakten, Zeitungsarchive oder politische Debatten. Sie entsteht in jenen persönlichen Momenten, die Menschen verbinden – über Jahrzehnte hinweg. Die Etzelstraße war vielleicht ein Objekt städtebaulicher Fehlentscheidungen, aber für viele auch ein Ort der Begegnung, des Aufbruchs, der Freundschaft. Liegt darin die wahre Bedeutung der Jugendstilvilla? Nicht im Traurigen des Abrisses, sondern im Glück deren, die dort ein Stück Jugend fanden und heute gern daran zurückdenken.