Die betagte Frau aus dem Münchner Stadtteil Obermenzing kommt gerade aus der Bank. In ihrer Tasche hat sie mehr als eine halbe Million Euro, in bar und Gold. Sie übergibt das Vermögen, das Ärzten helfen soll, die schwer krebskranke Tochter der über 80-Jährigen zu heilen, einem ihr unbekannten jungen Mann, der vor der Bank wartet. In diesem Moment klicken die Handschellen. Ermittler der Münchner Polizei nehmen den Mann fest.
Beinahe hätte die Seniorin ihr gesamtes Vermögen verloren, an einen kriminellen Clan aus Osteuropa. Mit einer besonders perfiden Masche versuchen die seit Jahren bekannten Profis in Sachen Telefon-Abzocke, vorzugsweise alte Menschen um ihr Geld zu bringen.
„Schockanruf“ nennt die Polizei das Phänomen. Und welcher Schock könnte größer sein, als von einem vermeintlichen Arzt am Telefon zu erfahren, ein naher Angehöriger liege mit einer lebensbedrohlichen Krankheit in der Klinik, und nur ein ganz besonders teures Medikament könne den Patienten retten. An der Geschichte, die so oder so ähnlich Hunderte Male an Münchner Telefonen erzählt wird, ist alles falsch: der Arzt, die Krankheit, das angeblich lebensrettende Medikament, der Abholer, der kommen soll, um das Bargeld vermeintlich zum Krankenhaus zu bringen.
„Ärzte, Pflegekräfte oder Mitarbeitende der Verwaltung des Klinikums würden niemals bei Verwandten oder Freunden von Patienten anrufen, um Geldbeträge für eine Behandlung, eine Operation oder ein Medikament zu fordern“, sagt Markus M. Lerch, der Ärztliche Direktor des Klinikums der Ludwig-Maximilians-Universität. „Es werden auch nie am Telefon schwere oder plötzliche Diagnosen mitgeteilt. Es muss auch niemand für eine Operation oder ein Medikament Bargeld oder Schmuck zu uns bringen.“
Doch genau das verlangen die Anrufer oft von ihren Opfern. Zwei Tage vor der Obermenzingerin hatte eine weitere Münchnerin eine ähnliche Hiobsbotschaft erhalten. 200 000 Euro wollten die Anrufer von ihr. Die Frau machte sich mit dem Geld sofort auf zum Krankenhaus im Stadtteil Großhadern. Dort jedoch widerfuhr ihr ein Missgeschick, wie sie zunächst dachte. Ein Missgeschick, das sie vor der Ausplünderung bewahrte: Sie verpasste den Abholer und ging mit dem Geld in die Klinik. Die rief sofort die Polizei.
Wie diese die Spur des Abholer-Teams aufnehmen konnte, will Kommissariatsleiter Thomas Schedel nicht verraten. Er hofft auf weitere Fahndungserfolge. Ob Telefone überwacht oder die Verdächtigen observiert wurden – jedenfalls hatten Kriminalpolizisten die beiden Abholer auf dem Schirm. Und so konnten sie zwei Tage später, am Nikolaustag, verhindern, dass die beiden Polen, 24 und 59 Jahre alt, in Obermenzing noch mehr erbeuteten.
Polizeieinsatz vor einer Woche
:Doppelschlag in München gegen internationales Drogen-Netzwerk
Der Schuss eines Polizisten stoppt vor einer Woche einen flüchtenden Dealer. Dessen Fluchtversuch hängt offenbar mit einem Ereignis wenige Stunden vorher zusammen: der Festnahme eines hochrangigen Mitglieds der Rauschgift-Mafia in der Münchner Fußgängerzone.
Die kriminellen Banden sind gut organisiert und haben eine hierarchische Struktur. Die Abholer sind auf der untersten Ebene angesiedelt. Logistiker steuern ihre Einsätze. Die „Keiler“ in den Callcentern telefonieren ganze Städte ab. Im Hintergrund sitzen die Clan-Bosse, kassieren ab und leben in Saus und Braus. 812 solcher Schockanrufe wurden der Münchner Polizei vergangenes Jahr bekannt, die Dunkelziffer dürfte viel höher sein. Viele Opfer schweigen aus Scham.
Es geht um riesige Summen. Mit Schockanrufen erbeuteten die Banden, die früher mit dem ähnlich gestrickten „Enkeltrick“ illegal Kasse machten, vergangenes Jahr in München 3,22 Millionen Euro. Bei 36 vollendeten Taten war das eine durchschnittliche Beute von fast 90 000 Euro in jedem einzelnen Fall. Mindestens genauso schlimm wird die Bilanz in diesem Jahr ausfallen.
Die Experten vom Kommissariat 61 haben zwei unterschiedliche Tätergruppierungen im Blick. Anrufe falscher Polizisten sind das Werk krimineller Strukturen in der Türkei. Nachdem türkische Behörden mit Unterstützung ihrer deutschen Kollegen mehrere Callcenter auffliegen ließen, herrschte zeitweise relative Ruhe. Zuletzt beobachten Schedels Ermittler erneut eine Zunahme solcher Fälle. Auch in Polen gibt es immer wieder Ermittlungserfolge, von denen die Urheber der zweiten Masche betroffen sind. Die haben ihren 1998 erfundenen Enkeltrick („Hallo Oma, rate mal, wer dran ist …“) inzwischen weiterentwickelt. Zum kriminellen Geschäft mit der Angst.
