Die deutsche Amerikapolitik gründet seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf zwei Annahmen: Erstens, die Vereinigten Staaten handeln als liberaler Hegemon, der Sicherheit, Stabilität und Freihandel bereitstellt und seine Führungsrolle durch weiche Macht und institutionelle Einbindung absichert. Zweitens, die Regierungsform der USA als liberale Demokratie ist gesetzt, was sich in einer an demokratischen Normen orientierten Außenpolitik widerspiegelt, zu denen der Schutz von Demokratien und die Abstimmung mit anderen Demokratien gehören.

Beide Annahmen sind unter aktuellen Bedingungen nicht haltbar. Die Vereinigten Staaten sind zunehmend kein Status-Quo-Hegemon mehr, sondern eine revisionistische Großmacht, die Einfluss- und Interessensphärenpolitik offen verfolgt. Vergleiche mit der von Carl Schmitt propagierten Idee von Großraumordnungen mit Interventionsverboten für raumfremde Mächte kommen nicht von ungefähr. Die Wiederbelebung des Begriffs einer exklusiven „westlichen Hemisphäre“ in der neuen nationalen Sicherheitsstrategie der USA ist hierfür beispielhaft.

Im Verlauf der US-Geschichte gab es immer wieder Spannungen zwischen imperialen Ambitionen und demokratischen Prinzipien.

Das Recht des Stärkeren tritt an die Herrschaft des Rechts. Zölle werden als Druckmittel eingesetzt, geopolitisch bedeutsame Regionen wie der Panamakanal oder Grönland als Anker globaler Machtprojektion reklamiert, Absprachen werden über die Köpfe anderer hinweg getroffen. Im Verlauf der US-Geschichte gab es immer wieder Spannungen zwischen imperialen Ambitionen und demokratischen Prinzipien. Dieses Gleichgewicht neigt sich momentan stark zugunsten ersterer, dies zeigt sich auch in der amerikanischen Innenpolitik.

Die Vereinigten Staaten wandeln sich strukturell. Der Staatsapparat wird umgebaut. Die Machtkonzentration im Weißen Haus steigt. Die Justiz wird politisiert, die Wissenschaft- und Pressefreiheit unter Druck gesetzt. Das Militär soll in einer ideologischen Wende auch „Feinde im Inneren“ bekämpfen. „It’s not your parents‘ GOP“, heißt es dazu in den USA. Die Republikanische Partei unter Trump ist eine revolutionäre Kraft, die an US-Verfassungsgrundsätzen rüttelt. Experten bezeichnen die Vereinigten Staaten daher zusehends als „illiberale Demokratie“ – Endpunkt offen.

Die Kombination aus harter Großmachtpolitik und Illiberalismus zeigt sich im Umgang mit den Europäern: Eine Beziehung auf Augenhöhe ist ausgeschlossen. Europa soll als Sprungbrett in wichtige Weltregionen und Multiplikator von US-Marktmacht dienen – aber nicht in der jetzigen Form. Die Trump-Administration mischt sich in die inneren Angelegenheiten des alten Kontinents ein, möchte den Kurs europäischer Nationen „korrigieren“, den Widerstand gegen europäische Regierungen „kultivieren“ und bedient dabei rechtsextremer Erzählungen von Remigration.

Die Begriffe „Anführer der freien Welt“ und „Vereinigten Staaten“ schließen sich auf absehbare Zeit aus – zumindest, solange Freiheit mehr bedeutet als Freiheit zur Machtdurchsetzung. Die Europäer haben auf diese „zweite Zeitenwende“, die Transformation der USA in eine illiberale Großmacht, vor allem mit einer Strategie der „maximalen Anlehnung“ (maximal bandwagoning) reagiert. Auf Gegenmachtbildung gegen als dominant eingeschätzte USA wird verzichtet. Stattdessen sollen die Amerikaner durch exzessive Kooperationsangebote und Rücksichtnahme, die breite Unterstützung ihrer Politik und den nahezu Verzicht auf Handlungen, die sie als gegnerisch werten könnten, besänftigt werden.

„Maximale Anlehnung“ kann bei einem Hegemon sinnvoll sein, der Stabilität garantiert und die eigenen Interessen nicht unmittelbar bedroht – so wie es die USA vor Trump gegenüber ihren Verbündeten in Europa lange waren. Doch bereits bei einer solchen eher defensiv orientierten Hegemonialmacht gehen damit Risiken einher: Verengte Handlungsspielräume, verlorene Innovationsfähigkeit und Souveränität.

Eine Folge davon ist, dass die Europäer heute allenfalls begrenzt dazu in der Lage sind, ihren Kontinent „aus eigener Kraft“ zu verteidigen. Bei der Planung und Leitung von Einsätzen, bei der Informationsbeschaffung und Lagebeurteilung, beim Einsatz von Waffen und Kräften zur Zielbekämpfung besteht zu unterschiedlichen Graden eine Abhängigkeit von US-Kapazitäten. Dass in der Vergangenheit auch Vertreter der Demokratischen Partei ein autonomes Europa nicht umfänglich unterstützen, zeigt eine Aussage von US-Außenministerin Madeline Albright aus dem Jahr 1998 darüber, dass Fortschritte in der europäischen Sicherheitspolitik nicht zu Entkopplung von der NATO führen dürfen.

Bei einem Hegemon, der die internationale Ordnung assertiv verändert, sind die Risiken noch weit größer. Werden seine Rechtsverstöße toleriert, wird es schwieriger, die Einhaltung internationaler Normen einzufordern. Zudem verlieren Staaten Einfluss und Prestige, wenn sie als bloße Erfüllungsgehilfen gelten, tragen Kosten und Risiken aggressiver Hegemonialpolitik – und erhalten dafür tendenziell keine verlässlichen Sicherheitsgarantien.

Bei der Trump-Regierung ist dies der Fall. Umso wesentlicher ist es, das „Bandwagoning“ auf das Nötigste zu beschränken und es mit einer Strategie zu kombinieren, die auf Abkopplung, Risikoreduktion und Dialogbereitschaft setzt, um in Krisensituationen handlungsfähig zu sein. Konkret heißt das, die eigenen Verteidigungsfähigkeiten so auszubauen, dass sie für ein Bündnis europäischer Staaten ohne die USA ausreichend sind, die Kooperationsfähigkeit gegenüber Ländern wie Kanada oder Indien zu stärken, sowie Kapazitäten zu erlangen, die es den USA schwerer machen, Europa etwa zur Konvergenz in seiner Chinapolitik zu zwingen. Einfache Lösungen wird es bei alldem nicht geben. Schwierige Güterabwägungen gehören dazu.

Es ist begrüßenswert, dass in Europa die Einsichtwächst, dass sich die transatlantischen Beziehungen grundsätzlichwandeln. Dafür sprechen Entwicklungen wie Verträge und Deklarationen europäischer Nationalstaaten, insbesondere in der Sicherheitspolitik, die einen bündnisähnlichen Charakter aufweisen. Konturen einer Neuordnung der europäischen Bündnisse sind erkennbar und müssen weiterverfolgt werden.

Eine Verringerung der technologischen Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten ist ebenso notwendig wie eine eigenständige europäische Militärstrategie. Die Idee einer Supranationalisierung der europäischen Verteidigungspolitik ist aufrechtzuerhalten. Mit gemeinsamen Streitkräften wäre das Problem der ungleichen Sicherheitszonen innerhalb der EU gelöst. Zwar ist ein solcher Wandel zeitintensiv, unter den Bedingungen der zweiten Trump-Präsidentschaft und der Ordnungserosion aber unumgänglich. Zweigleisige europäische und nationale Streitkräfte sollten angestrebt werden: Erstere für die Territorialverteidigung, letztere für Out-of-Area-Kapazitäten – historische Vorläufer existieren.

Parallel sollten bilaterale, trilaterale und multilaterale Formate zu gestärkt werden. Untereinander, aber auch mit Moskau oder Peking, sollten die Europäer ihre Kommunikationskanäle ausbauen –ohne direkte Rückkopplung an oder Inklusion der Vereinigten Staaten. Gegenüber Russland könnten Modi einer kompetitiven Rüstungskontrolle entwickelt werden. Der Austausch mit den USA bleibt wichtig. Kontakte in den Orbit der Republikanischen Partei sollten ausgebaut, Entscheidungsträger in der US-Regierung oder im Kongress, die Europa wohlwollender gegenüberstehen, identifiziert werden. Dadurch sollte ein ganzheitliches Lagebild entstehen, das Fehler aus der Vergangenheit vermeidet.

Besonders für Krisen, die Europa direkt betreffen, ist mehr Eigenständigkeit unumgänglich.

Besonders für Krisen, die Europa direkt betreffen, ist mehr Eigenständigkeit unumgänglich. Zu viel Zeit ist auf diesem Weg bereits verloren gegangen. Sind die Europäer mit Aspekten des amerikanischen „Friedensplans“ für die Ukraine nicht einverstanden, dann müssen eigene Positionen formuliert werden. Wenn der Vorschlag einer Begrenzung der ukrainischen Streitkräfte auf 600 000 mit 800 000 Soldaten gekontert wird, warum wird nicht eine reziproke Forderung an die russische Seite in die Diskussion eingespeist, etwa regionale Begrenzungen in Belarus? Schließlich, wenn sich die Europäer vor Nebeneffekten einer US-russischen Rüstungskontrolle fürchten, wie können diese eingedämmt werden? Kurzum: mehr Aktion und weniger Reaktion, das ist das Gebot der Stunde.

Die Pax Americana und die liberale internationale Ordnung laufen auf ihr Ende zu. Eine Rückkehr zum Status Quo Ante vor Beginn des Ukrainekriegs wird es nicht geben. Das Jahr 2025 hat gezeigt, wie abhängig das System von einem Hegemon gewesen ist, der in seinen Erhalt investiert hat. Es hat zudem gezeigt, dass sich die innere Verfasstheit des dominanten Akteurs in den Regeln und Institutionen spiegelt, die global wirkmächtig sind. Das aktuelle Modell kollabiert, Großmachtpolitik im Stil des 19. Jahrhundert erlebt ihr Comeback.

Die Vereinigten Staaten dürfen Europa nicht mehr als Hort der Freiheit und Erlösung dienen. Sie sind vielmehr ein Musterbeispiel dafür, wie schnell sich die Dinge ändern können. Für Europa kann es nur einen Weg nach vorne geben. Autonomie und eine Politik, die Amerika als das behandelt, was es niemals sein wollte: Eine Großmacht wie jede andere. Wer an den alten Transatlantizismus glaubt, der glaubt auch an den Weihnachtsmann (oder an Coca-Cola). Wir Europäer sollten stattdessen auf uns vertrauen – und auf das Erbe der Aufklärung.