Menschen mit gepackten Taschen sind an einem Bahnhof in Lozova in der Region Charkiw (Ukraine) zu sehen.

Stand: 18.12.2025 16:05 Uhr

Etwa vier Millionen Menschen flohen bei Kriegsbeginn aus der Ukraine. Wen sie in der Heimat zurücklassen mussten, in welche EU-Staaten sie gegangen sind und warum – Fluchtentscheidungen wie diese haben Forschende untersucht.

Ielyzaveta Shcherbii ist 15 und wohnt in Kiew, als ihre Mutter sie am 24. Februar 2022 nicht in die Schule schickt. Wenige Wochen nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine flieht sie gemeinsam mit Mutter und Schwester nach Deutschland. Dort ist es sicherer für die Kinder als in der Ukraine oder auch im nahegelegenen Estland, entscheidet die Mutter damals. Dass alle drei bereits Deutsch lernen, macht die Entscheidung leichter. Und Bekannte in Deutschland haben angeboten, zu helfen. Ihre Mutter muss sich von da an allein um die Kinder kümmern, der Vater darf die Ukraine nicht verlassen.

Welche sogenannten Push-Faktoren, welche Gründe und Umstände, haben dazu geführt, dass die Menschen die Ukraine verlassen haben? Über 250 Ukrainerinnen und Ukrainer in Berlin, Warschau und Budapest hat die Soziologin Céline Teney von der Freien Universität Berlin 2022 für eine Studie zu ihren Entscheidungen vor und während ihrer Flucht befragt. Und dazu, wie machtlos oder handlungsfähig sie sich dabei gefühlt haben.

Beweggründe für die Flucht aus der Ukraine

Ielyzavetas Mutter zum Beispiel machte sich Gedanken um die Sicherheit ihrer Kinder in einem Land, das im Krieg ist. Sie sorgte sich um deren Ausbildung und die wirtschaftliche Situation. Die Menschen, die in der Ostukraine Bombenangriffen ausgesetzt waren, hatten andere Beweggründe.

„Es gibt sehr große Unterschiede, wie die Menschen geflohen sind, je nachdem, ob sie geflohen sind, um ihr Leben zu retten oder ob sie ein bisschen mehr Zeit hatten, um nachzudenken. Und das hat auch, glaube ich, einen sehr großen Einfluss auf, wie sie dann ankommen und wie bereit sie sind, sich hier anzupassen“, fasst die Forscherin ihre Ergebnisse zusammen.

Schutz für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine

Die meisten Geflüchteten – in den Wochen nach Kriegsbeginn im Frühjahr 2022 waren das vor allem Frauen mit Kindern – rechneten damit, dass sie bald in die Ukraine zurückkehren könnten. Auch Ielyzaveta: „Ich dachte, ich bin in Deutschland für etwa einen Monat und das ist wie eine kleine Reise.“

Flüchtende aus der Ukraine hatten von Anfang an, anders als Geflüchtete aus Ländern wie Syrien oder Afghanistan, Bewegungsfreiheit. Aufgenommen nach der sogenannten Massenzustrom-Richtlinie der EU, konnten sie sich für ein EU-Zielland entscheiden, mussten keinen Asylantrag stellen und durften sofort arbeiten. Dieser besondere Schutz wurde immer wieder verlängert und gilt aktuell bis zum 4. März 2027.

Fluchtgründe für Menschen aus der Ukraine

Als „Pull-Faktoren“ gelten in der Migrationsforschung Aspekte, die dazu führen, dass sich Flüchtende zum Beispiel für ein bestimmtes Land entscheiden. Laut den Ergebnissen der Befragung von Céline Teney flüchteten Menschen aus der Ukraine in den ersten Kriegswochen vor allem deswegen nach Polen, weil es dort bereits ein großes ukrainisches Netzwerk von Arbeitsmigranten gibt. Außerdem ist Polnisch für Ukrainisch-Sprechende verhältnismäßig einfach zu erlernen.

Fiel die Wahl auf Ungarn als Zielland, antworteten Befragte häufig, ein Grund sei die räumliche Nähe und damit die Möglichkeit, schnell ins Heimatland zurückkehren zu können.

Für Deutschland haben sich Flüchtende 2022, so die Studie, wegen des Zugangs zu Sprachkursen und Sozialleistungen entschieden. Sie hofften außerdem, bessere Arbeit zu finden, mussten aber feststellen, so die Studienautorin, dass es in Deutschland viel Zeit koste und ein hoher bürokratischer Aufwand sei, bis Bildungsabschlüsse, die man im Ausland erworben habe, anerkannt würden.

Ukrainische Geflüchtete in den deutschen Arbeitsmarkt integrieren

In Polen haben rund drei Viertel der ukrainischen Kriegsflüchtlinge einen Job, in Deutschland arbeitet etwa die Hälfte der geflüchteten Ukrainer. Die Soziologin Céline Teney betont die Notwendigkeit einer schnelleren Integration in den deutschen Arbeitsmarkt: „Druck auszuüben ist auch eine Art von Unterstützung. Ich glaube, wenn man ohne Ende Sprachkurse bezahlt, dann gibt es auch keinen Anreiz für die Geflüchteten, nach einem Job zu suchen.“

Im November haben Union und SPD beschlossen, dass Geflüchtete, die seit April 2025 nach Deutschland gekommen sind, künftig anstelle des Bürgergeldes nur noch Asylbewerberleistungen erhalten sollen.

Jüngere Geflüchtete leben sich schneller in Deutschland ein

Wie die Soziologin Céline Teney erwartet hatte, zeigt die Studie, dass jüngere Menschen sich meist schneller in der neuen Umgebung einleben als ältere, die ein ganzes Leben zurücklassen mussten.

Ielyzaveta Shcherbii hat sich damit abgefunden, dass sie nicht weiß, wann sie in ihre Heimat zurückkehren wird. Die 19-Jährige steht kurz vor dem Abschluss ihres Fachabiturs und plant, hier zu studieren. Sie sei in Deutschland angekommen, aber: „Es ist wichtig zu verstehen, dass jeder Ukrainer und jede Ukrainerin eine eigene Geschichte mit sich bringt.“ Solange in der Ukraine kein Frieden herrscht, werden die Lebenspläne von Ielyzaveta und anderen Geflüchteten nie wirklich sicher sein. Die Erfahrung der Flucht teilen sie alle.