Das wird international Schlagzeilen geben. Nicht mehr lange, dann geht in Berlin eine weltweit einzigartige Volksabstimmung in die zweite entscheidende Phase. Wenn die letzten Böllerreste aufgefegt sind, beginnt die nächste Unterschriftensammlung für den Verkehrsentscheid. Das Volksbegehren hat zum Ziel, den privaten Kfz-Verkehr innerhalb der Ringbahn stark zu verringern. Jetzt hat das Team einen neuen Starttermin bekannt gegeben. Verkehrsexperten erläutern, ob sie an der Abstimmung teilnehmen.
„Der offizielle Sammelstart ist am 9. Januar 2026“, sagt Marie Wagner. Sie ist Sprecherin des Teams Verkehrsentscheid mit dem Motto: weniger Autos, mehr Berlin. Mehrere Hundert Mitstreiter stünden bereit, um bis 8. Mai Unterschriften zu sammeln, berichtet sie. Für den 10. Januar planen die Organisatoren eine Auftaktveranstaltung.

Das Ideal: Paris hat den Autoverkehr in der Innenstadt stark reduziert. Eine Schulstraße mit viel Grün.Peter Neumann/Berliner Zeitung
Sie sind unzufrieden mit der Verkehrspolitik in Berlin – auch mit der Politik der Grünen. Um ihre Forderungen direkt durchzusetzen, gehen sie einen außerparlamentarischen Weg. So war Berlin als erste Stadt auf der Welt 2021 Schauplatz einer Abstimmung, bei der es darum ging, den privaten Autoverkehr im Zentrum zu reduzieren. Der Entwurf des „Berliner Gesetzes für gemeinwohlorientierte Straßennutzung“ sieht unter anderem vor, die Zahl der Fahrten zu rationieren. Die erste Phase des Plebiszits war ein Erfolg: Für den Antrag auf Einleitung eines Volksbegehrens kamen in nur drei statt sechs Monaten 50.333 Unterschriften zusammen. Gefordert waren 20.000 Unterschriften.
Initiative will bis Mai 240.000 Unterschriften sammeln
In der zweiten Phase, die nun beginnt, müssen allerdings etwas mehr als 170.000 stimmberechtigte Berliner den Gesetzentwurf unterstützen. Um sicherzugehen, dass genug gültige Unterschriften zusammenkommen, hat sich das Team das Ziel gesetzt, während der vier Monate 240.000 Unterstützer für das Volksbegehren zu sammeln.
Schon jetzt ist absehbar, dass die Debatte über den Verkehr in Berlin wieder hochkochen wird. Zwar gilt Berlin als schwach motorisierte Stadt, vor allem in der Innenstadt werden die meisten Wege auf andere Art zurückgelegt. Doch das geplante Landesgesetz polarisiert, denn es sieht bisher ungekannte Einschnitte in die private Automobilität vor. Nach jahrelangen Diskussionen nehmen Menschen, die den parlamentarischen Weg für unzweckmäßig halten, das Thema in die eigenen Hände. Der Autoverkehr in der Innenstadt soll um rund vier Fünftel zurückgehen: Das ist das Ziel des Plebiszits.
Kommt das Volksbegehren zustande, beginnt die dritte Phase. Innerhalb von vier Monaten muss ein Volksentscheid herbeigeführt werden. Der Gesetzentwurf gilt als angenommen, wenn die Mehrheit der Teilnehmer und zugleich mindestens ein Viertel der Stimmberechtigten zugestimmt hat. Die Schwelle liegt bei 613.000 Berlinern.
Die Schönhauser und Frankfurter Allee bleiben frei befahrbar
Kern der insgesamt 18 Paragrafen ist, einen Großteil der öffentlichen Straßen und Plätze innerhalb der Ringbahn für den privaten Autoverkehr zu entwidmen. Nach vier Jahren Übergangsfrist sollen sie zu autoreduzierten Bereichen erklärt und „teileingezogen“ werden. Autobahnen wie die A100 sowie Bundesstraßen wie die Leipziger Straße, der Kaiserdamm, die Schönhauser und Frankfurter Allee blieben dagegen frei befahrbar.
Nach der Übergangsfrist würde für private Pkw-Fahrten eine Erlaubnis benötigt. Erst gäbe es sie für zwölf 24-Stunden-Zeiträume pro Jahr, später für sechs – pro Person. Das Kontingent gilt auch für Miet- oder Carsharing-Fahrzeuge. Wer ohne Erlaubnis erwischt wird, dem droht ein Bußgeld von bis zu 100.000 Euro. Busse, Taxis, Polizei, Feuerwehr, Straßenreinigung, Müllabfuhr, Rettungsdienste und Postfahrzeuge dürften sich weiterhin frei bewegen. Eine Härtefallregelung gäbe es für Berufstätige, die nachts zur Arbeit müssen. Für Menschen mit körperlichen Einschränkungen sind Ausnahmen geplant.
„Ich werde unterschreiben, und zwar aus taktischen Gründen“
Die Berliner Zeitung hat Verkehrsexperten gefragt, ob sie das Volksbegehren unterstützen werden. „Ich werde unterschreiben, und zwar aus taktischen Gründen“, antwortet der Stadt- und Verkehrsplaner Friedemann Kunst, der die Abteilung Verkehr in der Senatsverwaltung bis 2013 geleitet hat. „Die konzeptfreie, rückwärtsgewandte Verkehrspolitik des Senates braucht dringend eine starke Gegenreaktion, die zumindest in die richtige Richtung geht.“
Ein erfolgreicher Verkehrsentscheid würde signalisieren, dass die Mehrheit der Berlinerinnen und Berliner andere Vorstellungen von einer lebenswerten Stadt hat, in der nicht länger das private Automobil die öffentlichen Räume dominiert, so Kunst.
„Ich bin nicht von jeder der vorgeschlagenen Regelungen überzeugt. Aber ein Erfolg würde den Senat zwingen, selbst praktikable Lösungen zu entwickeln“, hofft er. „Berlin braucht endlich den Einstieg in eine Flächenumverteilung im öffentlichen Verkehrsraum zugunsten von Fußgängern, Radfahrern, Bussen und Bahnen – und von Bäumen. Was Paris kann, könnte Berlin mit seinem größeren Straßenraum noch viel besser!“
Andreas Knie, Mobilitätsforscher am Wissenschaftszentrum Berlin, will den Verkehrsentscheid ebenfalls unterstützen. „In Berlin sind rund 1,5 Millionen Kraftfahrzeuge zugelassen, davon mehr als 1,2 Millionen Pkw. Wir können uns in Berlin von einer Million Autos befreien, wir brauchen nicht so viele Autos in Berlin“, sagt er der Berliner Zeitung. Den Ansatz, private Autofahrten erlaubnispflichtig zu machen, teilt er allerdings nicht. „Die staatliche Bürokratie auszuweiten und Genehmigungsprozesse zu installieren, ist für mich nicht der Weisheit letzter Schluss“, so Knie.
„Ein Kampf gegen den privaten Pkw-Verkehr ist nicht zielführend“
„Nein, ich stimme nicht für ‚Berlin autofrei‘“, gibt dagegen der SPD-Verkehrspolitiker Tino Schopf auf Anfrage zu Protokoll. Das Engagement für saubere Luft, weniger Lärm und weniger Autoverkehr sei löblich und nachvollziehbar. „Doch ein Kampf gegen den privaten Pkw-Verkehr ist aus meiner Sicht nicht zielführend“, meint der Abgeordnete.
Die wichtigste Stellschraube bei der Verkehrswende und dem Klimaschutz sei ein zuverlässiger, leistungsfähiger und vor allem gut ausgebauter öffentlicher Nahverkehr. „Dazu gehören sichere Radverkehrswege, Bussonderfahrstreifen sowie der Vorrang des Bus- und Straßenbahnverkehrs bei Ampelschaltungen“, sagt Schopf. So bleibt Berlin in Bewegung, und genau das bewegt Menschen dazu, das eigene Auto stehen zu lassen. Darauf sollten wir unser Augenmerk richten und die nötigen Investitionen vornehmen.“
Auch Jens Wieseke, lange Zeit Sprecher des Berliner Fahrgastverbands Igeb, will den Verkehrsentscheid nicht unterstützen. Das Plebiszit habe „mit der sozialen Lebenswirklichkeit Hunderttausender Berlinerinnen und Berliner nichts gemein“, gibt er zu bedenken. „Der Nahverkehr ist in der derzeitigen Lage nicht ansatzweise in der Lage, das Mehr an Fahrgästen zu bewältigen. Darüber hinaus gibt es Ziele, die ohne Auto schlecht bis gar nicht zu erreichen sind.“

Eine volle U-Bahn in Berlin. „Der Nahverkehr ist in der derzeitigen Lage nicht ansatzweise in der Lage, das Mehr an Fahrgästen zu bewältigen“, sagt Jens Wieseke, der langjährige Sprecher des Fahrgastverbands Igeb.Verena Zistler
Wieseke stößt sich vor allem daran, dass für private Autofahrten Erlaubnisse gefordert werden. „Ein bürokratisches Monster wird die Menschen nicht überzeugen, auf das Auto zu verzichten“, sagt er. „Für mich zeugt dieser Vorschlag von sozialer Kälte gegenüber Menschen, die ich aus meinem Arbeitsumfeld kenne. Unternehmensstandorte, wie etwa bei der Logistik, sind häufig sehr abgelegen und schlecht bis gar nicht mit dem Nahverkehr zu erreichen. Es klingt für mich fast wie ein Programm, Menschen mit systemrelevanten Berufen aus der Innenstadt vertreiben zu wollen.“
Dagegen begrüßt der Straßenrechtsexperte Franz-Rudolf Herber das Vorhaben. Der Jurist und Philologe ist Mitautor eines Standardwerks zum Straßenrecht. Der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin habe mit einem „klar strukturierten Urteil, das sich auf eine sehr inhaltsstarke Argumentation stützt“, am 25. Juni 2025 das juristische Tor für eine Fortsetzung des Volksbegehrens geöffnet, ruft er in Erinnerung. Der Gesetzentwurf beschränke sich auf das Straßenbaurecht, das ausschließliche Landeskompetenz ist, so Herber. Es sei denn, Bundesfernstraßen sind betroffen.
Straßenrechtsexperte: „Die Erde wird nicht mehr bewohnbar sein“
Die Berliner Gerichtsentscheidung könne sich „Punkt für Punkt auf Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts beziehen und hat auch die führende Fachliteratur auf ihrer Seite“, analysiert der Straßenrechtsexperte. Zitiert wird unter anderem der Klima-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021, der dem Klimaschutz einen deutlich gewachsenen tatsächlichen und juristischen Stellenwert beimisst.
„Jede und jeder kann in den Medien Naturkatastrophen gleichsam hautnah miterleben“, so der Jurist. „Im Juli 2021 hat es das Ahrtal in verheerender Weise getroffen, die Zerstörungen sind im letzten Quartal des Jahres 2025 immer noch nicht vollständig beseitigt.