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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
wer kennt das nicht: Weihnachten steht vor der Tür, Geschenke müssen her, man surft durch die Kommerzplattformen im Internet. Was haben wir denn da Schönes? Ein ansprechendes Präsent? „China schrott -0 Sterne!“ dröhnt es uns aus den Bewertungen entgegen, oha, lieber schnell weiter zum nächsten Angebot. „So etwas würde ich eher auf sehr unseriösen ‚China-Müll-Plattformen‘ erwarten“, ätzt dort ein Käufer, bei einer Alternative wiederum erwartet uns laut Kundenmeinung „billigster China Schrott. Finger weg!“. Noch ein paar Klicks weiter treffen wir auf einen zornigen Einkäufer, der in seine Tastatur gehämmert hat: „Ich verzichte auf china schrott und zahle gerne dass doppelte wenn nötig! 😉 made in germany??“
Nein, mit vorweihnachtlicher Liebe wird man nicht erfüllt, während man auf digitale Einkaufstour geht. Statt Schleifchen und Geschenkpapier landen jede Menge klarer Ansagen im Warenkorb. Wenn Konsumdeutschland die Produktauswahl kommentiert, gelten folgende Gewissheiten: Deutschland = Qualität, China = Schrott (und Rechtschreibung = Quatsch). Davon kann einem tatsächlich warm ums Herz werden, nämlich vor Rührung über die einfache Aufteilung der Welt. Die Bewertungen sind aktuell, das Weltbild allerdings stammt aus einer anderen Zeit. Und die ist vorbei.
Laptops, Handys und Software bringt man regelmäßig mit Updates auf den aktuellen Stand. Das eigene Weltbild hat das genauso nötig. Das Klischee vom schrottigen China-Produkt ist ein Beispiel dafür, wie das Urteilsvermögen abnimmt, wenn man das Betriebssystem im Hirn nicht aktualisiert. Deutsche Ingenieure und Maschinenbauer könnten entspannt zu Werke gehen und auch der Mittelstand ginge weiterhin erfolgreich seiner Geschäfte nach, wenn die Schrauber aus Fernost noch immer bloß minderwertige Waren auf den Grabbeltisch kippen würden. Ja, auch das billige Zeug gibt es noch. Und ja, Ramsch-Shops wie „Temu“ und „Shein“ sind nicht nur hinsichtlich ihrer Umweltbilanz die Pest. Doch abseits dessen erobern längst Konzerne den Markt, die ihre deutschen Konkurrenten mit vergleichbarer oder sogar höherer Qualität ausstechen – zu einem Bruchteil des Preises.
Chinas Exporte nach Deutschland steigen seit langem – nun gehen sie durch die Decke. Subventionen aus dem Staatssäckel verschaffen Herstellern von Shanghai bis Shenzhen einen Vorteil. Auch ein unfairer Wechselkurs und Dumping-Praktiken geben ihnen Rückenwind. Aber das genügt längst nicht mehr, um den Boom chinesischer Exporte zu erklären. Beständig verbesserte Prozesse, reaktionsschnelle Anpassungen und der Druck gnadenloser Konkurrenz im eigenen Land haben die Betriebe im Reich der Mitte fit gemacht.

Roboter-Produktion in Shanghai. (Quelle: imago images)
Die Zeiten ändern sich. Was passiert, wenn man die Welt trotzdem nur im Rückspiegel betrachtet, wird gerade in Brüssel vorgeführt. Dort hat die EU-Kommission erstens das Mercosur-Abkommen wegen interner Streitereien verschoben und zweitens unter dem Beifall der Bundesregierung das Verbrenner-Auto am Leben erhalten – als wäre das Rennen zwischen herkömmlichem Sprit und Energie aus dem Akku nicht schon längst gelaufen. Lauscht man der Diskussion hierzulande, treten noch immer Klimaschutz und Arbeitsplätze gegeneinander an, Wirtschaft gegen Ökos, Umwelt und Gedöhns gegen liebgewonnenen Wohlstand. Im deutschen Biotop mag das noch immer so erscheinen, aber wer sich an diesem überholten Scheinkonflikt abarbeitet, wird auf der größeren Bühne – nämlich der globalen – bald nicht mehr nach seiner Meinung gefragt.
Die Zukunft, über die wir noch immer palavern, findet andernorts längst statt. In China überholen die Neuzulassungen von E-Autos den antiquierten Verbrenner. Der Mega-Markt für Elektrofahrzeuge ist dort bereits Realität und sorgt bei der Produktion für die erforderliche Masse. Mit dieser Menge im Rücken und beflügelt von erfolgreichen Innovationen machen Chinas Autobauer auf dem Weltmarkt den Durchmarsch. Im globalen Süden spielen Elektrofahrzeuge von den Fließbändern Europas keine Rolle. Sie haben mit ihrem miesen Preis-Leistungs-Verhältnis dort keine Chance. „Vorsprung durch Technik“ hieß es früher bei Audi, und der Spruch stimmt immer noch. Vorne dran fährt nun allerdings die Konkurrenz aus China – während deutsche Autoschrauber nur noch die Rücklichter sehen.
Um das Klima geht es dabei nur am Rande. Chinas Marktmacht ist das Ergebnis progressiver Industriepolitik. In der EU hingegen wird Industriepolitik für die Gestrigen gemacht: Die lebensverlängernden Maßnahmen für den Verbrenner schützen eine Branche, die, wenn sie die Hilfe annimmt, den Anschluss verpasst und untergeht. Und Spitzenpolitiker wie Markus Söder blicken noch nicht einmal durch, was da gerade geschieht.

Zum Export vorbereitete E-Autos in Shanghai. (Quelle: XinHua/dpa)
Es ist riskant, ein bequemes Weltbild zu pflegen, das der Wirklichkeit hinterherhinkt. Zum Glück kann man die Gefahr leicht erkennen. Sie verrät sich durch Formulierungen, bei denen die Gegenwart zur Ewigkeit erklärt wird. „Russland wird nie …“ fingen solche Sätze früher häufig an. Niemals wird Putin am Gashahn drehen, lautete das Credo in Berlin. Nach dem Überfall auf die Ukraine sah man, was die Gewissheit wert war. Erinnern Sie sich noch an Ihre horrende Heizkostenrechnung? Oder den Bückling von Außenminister Robert Habeck vor den Gasprinzen in Qatar? Alles der Blindheit von Vorgängerregierungen geschuldet, die zu genau wussten, was vermeintlich los war, und deshalb nicht sahen, was sich wirklich tat. „Russland wird nie …“ ist auch der Grund dafür, dass die Bundeswehr lange mit Besenstielen statt Gewehren ins Manöver zog. Wir haben uns auf unseren Gewissheiten ausgeruht. Das war ein Fehler und kommt uns nun teuer zu stehen. Das ist das Muster.
Haben wir mittlerweile aus diesen Fehlern gelernt? Machen wir den Selbsttest. Ich gebe die Stichworte vor: Amerika, Trump, Verbündeter, Partner. Alles klar, werden Sie jetzt wahrscheinlich denken. Das haben wir zum Glück verstanden: Die USA sind kein verlässlicher Verbündeter mehr, das ist vorbei. Schlimm genug, aber wenigstens lügen wir uns nicht mehr in die Tasche. So weit, so gut.
Nur steht nirgendwo geschrieben, dass es dabei sein Bewenden hat. In der neuen nationalen Sicherheitsstrategie hat das Trump-Team soeben klar benannt, dass es die EU untergraben, radikale und populistische Kräfte in Europa stärken und den Kontinent spalten will. Würde das Siegel des US-Präsidenten nicht auf dem Titelblatt prangen, könnte man das Papier für einen Schlachtplan Putins halten. Um einen Ausrutscher handelt es sich nicht. Schon im Februar hat Vizepräsident JD Vance, der als Trumps Nachfolger gehandelt wird, in einer schockierenden Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz die Europäer angegriffen.
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