Der französische Filmemacher sprach mit Opfern und Tätern und drehte an den Schauplätzen des Holocaust. Das Jüdische Museum in Berlin stellt sein Audioarchiv aus.
Paul Jandl19.12.2025, 05.30 Uhr
Der französische Filmemacher Claude Lanzmann hat von 1974 bis 1985 Ton- und Bilddokumente gesammelt für seinen Film «Shoah». Aufnahme von 2012.
Serge Cohen / Imago
Er sei kein Schauspieler, er habe noch nie in einem Film mitgespielt, sagt Jacob Werbin zögernd zu Claude Lanzmann. Der Regisseur muss ihm erst einmal erklären, dass es um einen Dokumentarfilm geht. «Yeah», sagt Werbin, der ein Überlebender des Holocaust war und 1949 nach Amerika emigrierte. Und dann beginnt er zu erzählen. Nicht als Schauspieler, sondern als er selbst. Über das Ghetto im litauischen Kowno, wo er bei der Torwache eingesetzt war.
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Das Gespräch findet sich auf einer Sony-Tonbandkassette mit einer Spielzeit von 120 Minuten. Sie ist eine von 152, die Claude Lanzmann bei den Vorarbeiten zu seinem Film «Shoah» aufgenommen hat. Elf Jahre lang, von 1974 bis 1985, waren er und zwei Mitarbeiter vor allem in Deutschland, Polen, Israel und Amerika unterwegs, um jenes Material zusammenzutragen, aus dem später eines der erschütterndsten Dokumente über die planvolle Vernichtung der Juden in Europa werden sollte.
Ein neun Stunden langer Film mit Zeitzeugengesprächen und Aufnahmen von den Orten des Holocaust. Die Ergebnisse der Recherchen zu «Shoah» füllen ein Archiv, das heute im Berliner Jüdischen Museum ist und zum Unesco-Weltdokumentenerbe gehört.
Auf Spurensuche in Polen
Vor hundert Jahren wurde Claude Lanzmann in der Nähe von Paris geboren, aber das ist nur einer der äusseren Anlässe, um sechsundzwanzig bisher unveröffentlichte Interviews mit Opfern, Tätern und Zeugen in einer akustischen und überaus eindringlichen Ausstellung hörbar zu machen. «Claude Lanzmann. Die Aufzeichnungen» im Jüdischen Museum ist ein Gang durch die Geschichte. Eine Geschichte, die sich immer wieder neu aktualisiert, wie man am neu aufkeimenden Antisemitismus sehen kann.
Als Claude Lanzmann, der zur französischen Résistance gehört hatte, an seinem Film zu arbeiten begann, wollte er keine historische Perspektive liefern. Er forschte nach den Orten, an denen das Grauen des Holocaust gegenwärtig geblieben ist. Im Gedächtnis der Opfer, in den vernarbten Landschaften, wo früher die Konzentrationslager standen. An Bahnstrecken, die zu ihnen hinführten.
In der Ausstellung sieht man das Aiwa-Aufnahmegerät, mit dem Claude Lanzmann in den siebziger Jahren unterwegs war. Man sieht eine Strassenkarte von Polen mit Markierungen für die Reise, Karteikarten zu Biografien der Interviewten und penible Aufzeichnungen für die Vorbereitung.
Die Gespräche selbst wirken improvisiert, und es gibt immer diese Momente, wo sich die zeitlichen Schichten übereinanderzulegen scheinen. Gerade noch tönt aus dem Autoradio «Rot ist die Liebe», dann wird an der Tür von Ulrich Brand geklingelt, früher SA-Sturmmann und Personaldezernent bei der Reichsbahn Oppeln, die für die Transporte nach Auschwitz zuständig war. Lanzmanns Assistentin Irena Steinfeldt-Levy kann gerade noch sagen, dass man wegen einer historischen Dokumentation hier sei, dann wird Ulrich Brand patzig: «Nee, da hab ich grad keine Zeit. Ich bin beschäftigt.»
Audiokassetten aus der Sammlung Lanzmann.
Jüdisches Museum Berlin, Foto: Roman März
Lebenslügen der Täter
Nicht ganz so beschäftigt war Kurt Eisfeld. Er redet mit der Interviewerin, Lanzmanns Mitarbeiterin Corinna Coulmas. Eisfeld, ehemals SS-Mann und Betriebsleiter von I. G. Farben in Ludwigshafen, beschreibt die Suche nach einem geeigneten Standort für ein Chemiewerk in Polen. Zufällig sei man bei Auschwitz fündig geworden.
«Ein ebenes, hochwasserfreies Gelände in der Nähe von guten Abwassermöglichkeiten, in der Nähe von Kohle, Kalk und Salz», sagt Eisfeld. «Wir hatten von der Anwesenheit eines Konzentrationslagers überhaupt keine Ahnung.» Die Wahrheit ist: Die I. G. Farben hat eng mit der SS zusammengearbeitet. Häftlinge aus dem KZ Auschwitz, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene mussten im neuen Chemiewerk arbeiten, in dem synthetischer Kautschuk hergestellt wurde.
Die sechsundzwanzig Tonbandausschnitte, die man jetzt im Jüdischen Museum hören kann, sind auch Zeitdokumente rhetorischer Figuren. Die Täter haben keine Fragen, sie haben Antworten, die selbstgewiss alle Schuld bestreiten. Den Opfern bleiben ewige Fragezeichen. Der jiddische Dichter Avrom Sutzkever, der 1943 aus dem Ghetto Wilna fliehen konnte, meint im Gespräch: «Über das Ghetto kann ich nicht sprechen.» Und er tut es dann doch: «Am Morgen töteten sie dort Menschen, und am Abend ging man ins Theater. Als meine Mutter getötet wurde, schrieb ich gerade ein Gedicht. Wer kann so was schon verstehen?»
Wer kann es verstehen? Claude Lanzmann und sein Team haben bei der Vorbereitung des Jahrhundertprojekts «Shoah» Menschen getroffen, die wegen ihrer Erinnerungen gezwungen waren, in der Vergangenheit zu leben, und die doch in der Gegenwart ankommen wollten. Unter den Emigranten trifft Claude Lanzmann auf Handwerker, Näherinnen und Kaufleute. Man bietet ihm amerikanischen Käse an. Käse müsse er doch mögen als Franzose. In Jacksonville sitzt der Regisseur mit dem Ehepaar Shlomo und Sara Gol beisammen. Sie stammen aus Litauen und haben das Ghetto in Wilna überlebt. Ob er Material brauche für seinen Film, fragen die Gols, und Claude Lanzmann antwortet: «Nein, ich brauche kein Material. Ich brauche Menschen.»
Claude Lanzmann. Die Aufzeichnungen. Jüdisches Museum Berlin. Bis 12. April 2026. Kein Katalog. Der Film «Shoah» ist zurzeit in der Arte-Mediathek zu sehen.