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Es gibt Orte in dieser Stadt, die keine Schlagzeilen brauchen, um zu erzählen. Orte, an denen sich ein einziges Detail verschiebt – und plötzlich verändert sich ein ganzes Bild. Wer in diesen Tagen an der Karl-Liebknecht-Straße vorbeigeht, spürt genau das: Etwas stimmt nicht mehr. Etwas fehlt. Oder vielmehr: Etwas steht im Weg.
Seit 1970 hebt ein Bauarbeiter aus Bronze hier die Hand. Ein Arbeiter jener Zeit: Helm, Stiefel, ruhige Kraft. Jahrzehntelang konnte er, aus einem einzigen, präzisen Blickwinkel, die Kugel des Fernsehturms „halten“. Ein kleiner Zauber, ein großer Satz über eine andere Zeit: Der Arbeiter trägt die Zukunft. Viele nahmen diesen Moment mit nach Hause – ein unscheinbares Berliner Familienfoto, das plötzlich Weltinterpretation wurde.
Doch nun wächst hinter ihm ein Turm aus Glas. „The Berlinian“, 146 Meter hoch – der neue Anspruch des neuen Kapitals. Und während der Büroturm in den Himmel greift, verliert der Bauarbeiter nach über 50 Jahren sein Ziel am Himmel. Die alte Achse – weg. Der Blick – verstellt. Die Frage – da: Was schiebt sich hier eigentlich dazwischen?

Baustelle Alexanderplatz: Vorne entsteht das Covivio-Hochhaus, im Hintergund ist das Bürohochhaus „The Berlinian“ zu sehen.Jochen Tack/imago
Soll er zurück in den Lustgarten?
Wer diesen Mann aus Bronze geformt hat, erzählt bereits viel über ihn. Geformt hat diesen Mann aus Bronze der Bildhauer Gerhard Thieme, 1928 im sächsischen Rüsdorf geboren, geprägt von der erzgebirgischen Tradition des Holzschnitzens. Schüler von Fritz Cremer und Theo Balden an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. Später, als Meisterschüler Cremers an der Akademie der Künste, nahm er gemeinsam mit ihm 1956 Bertolt Brecht die Totenmaske ab – ein Moment, der sein Verständnis von Form, Endlichkeit und Verantwortung prägte.
Sein Werk blieb stets nah am Menschen. Mehr als fünfzig Totenmasken – von Ulbricht, Eisler, Palucca – zeigen diese Nähe ebenso wie die kleinen Berliner Bronzen, die heute noch in der Stadt stehen: der Tröpfelbrunnen „Kletternde Kinder“, die „Berliner Typen“, der „Leierkastenmann“. Figuren, die leise erzählen, ohne zu herrschen.
1968 erhielt er den Auftrag des FDGB, einen „Bauschaffenden der Hauptstadt“ zu formen. 1969 war das Modell des Bauarbeiters im Alten Museum zu sehen, zwischen Architekturentwürfen einer Zukunft, die man kollektiv dachte. Die Berliner Zeitung meldete damals, Thieme habe für diese Arbeit den Kunstpreis des FDGB erhalten. Ein frühes Signal, wie ernst man dieses Symbol nahm.
Weniger bekannt ist, dass die Figur, bevor sie ihren heutigen Standort erhielt, bereits einmal an prominenter Stelle im Lustgarten stand – im Rahmen der Ausstellung „Architektur und bildende Kunst. Zum 20. Jahrestag der DDR“ (1969).

Geformt vom Bildhauer Gerhard Thieme: der BauarbeiterKonrad Hirsch
Dort, vor der klassizistischen Kulisse des Alten Museums, wirkte sie anders: nicht als stiller Beobachter, sondern als Figur, die in die Geschichte hineintritt. Auf dem historischen Foto aus dieser Zeit sieht man deutlich: Der Bauarbeiter war einmal dafür gedacht, sich mit dem Herzen der Stadt zu messen.
Kaum ein Ort in Berlin ist so aufgeladen wie der Lustgarten – dieser Raum der Staatsrituale, der Paraden, der gebrochenen Geschichtsschichten. Und plötzlich steht die Frage im Raum: Sollte er vielleicht dorthin zurück? Wäre das eine Korrektur – oder eine Befreiung? Ein Rückzug ins Historische – oder ein Statement inmitten der Gegenwart? Wenn man bedenkt, wie intensiv Standort und Bedeutung miteinander verwoben sind, bekommt der Gedanke eine unerwartete Schärfe.

Das Alte Museum und der Lustgarten mit verschiedenen Skulpturen in Ost-Berlin.T. Seeliger/imago
Lenin wurde zerlegt, Marx und Engels wurden verschoben
Nach 1990 verschwanden viele Denkmäler dieser Art. Lenin wurde zerlegt, Marx und Engels wurden verschoben, Thälmann kontextualisiert. Doch Thiemes Bauarbeiter blieb – ein „altersloser, vertrauter Nachbar“, wie die Berliner Zeitung ihn später nannte. Unaufdringlich, zuverlässig, ein wenig melancholisch. 2006 aber stand er schief, die Verankerung war durchgerostet. Die Berliner Zeitung warnte damals: „Der Bauarbeiter steht nicht mehr sicher.“ Der Satz klang wie ein Kommentar zur Stadt selbst. Doch das Denkmal wurde repariert, erneut verankert – und blieb stehen. Nur: In diesem Jahr passiert etwas, das kein Schweißen und kein Sockel erneuern kann.
Heute hat der Bauarbeiter die Kugel verloren. Der neue Büroturm steht nun dort, wo einst die Linie zwischen Hand und Turm verlief. Er nimmt ihm die kleine Wahrheit, die diese Stadt einmal erzählen wollte. Es ist ein stiller, aber präziser Kommentar zur Gegenwart: Die Zukunft, die der Arbeiter einst hielt, gehört ihm nicht mehr. Sie gehört jetzt einem Projektentwickler, einer Fondsstruktur, einer Skyline, die Renditen verspricht. Der Kapitalismus stellt sich buchstäblich zwischen Symbol und Idee. Und der Arbeiter, der früher Zukunft hielt, hält nun das Nichts.
Die Frage, ob man die Figur versetzen sollte, ist plötzlich nicht mehr absurd. Jede Stadt entscheidet über ihre Erinnerung – durch das, was sie stehen lässt, verschiebt oder verstellt. Zurück in den Lustgarten? Dorthin, wo er einmal frei stand, auf Augenhöhe mit der Geschichte? Oder näher an den Alexanderplatz, wo er den Turm wieder greifen könnte? Wäre das Ehrlichkeit – oder Geschichtskosmetik? Oder müsste man im Gegenteil sagen: Gerade jetzt steht er richtig. Gerade jetzt erzählt er etwas Wichtiges. Dass eine Stadt ihr Gedächtnis nicht verliert, wenn sich etwas dazwischen schiebt – sondern wenn man so tut, als wäre nichts geschehen.

1990: Demo vorm IHB Ingenieurhochbau gegen StellenabbauRolf Zöllner/imago
Eine Frage, die größer ist als jedes Hochhaus
Vielleicht ist die Verdeckung deswegen kein Problem, sondern eine Botschaft. Vielleicht zeigt der Bauarbeiter gerade jetzt, wie schnell Bedeutungen verwehen. Vielleicht ist seine neue Rolle die des Zeugen – nicht der Zukunft, sondern des Verlusts.
Der Bauarbeiter hat die Kugel verloren. Aber vielleicht bewahrt er etwas anderes: die Ahnung, dass jede Stadt aus ihren Sichtachsen besteht – und aus dem, was sich zwischen sie schiebt. Seine Hand, die einst hielt, markiert nun den Abstand zwischen zwei Systemen. Sie zeigt nicht mehr auf eine Zukunft, sondern auf eine Frage, die größer ist als jedes Hochhaus: Wie viel Gegenwart verträgt die Erinnerung? Und wie viel Erinnerung verträgt eine Stadt, die sich neu erfinden will – jeden Tag?
Konrad Hirsch ist Filmemacher und Journalist in Berlin. Sein Fokus liegt auf Ostafrika und Europa; er schreibt über Gesellschaft, Macht und die fragile Kunst des Zusammenlebens.
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