19. Dezember 2025. Am Ende singen sie „Sog nischt kejnmol“, erst auf Deutsch, dann auf Jiddisch: „Sage nie, du gehst den allerletzten Weg, / wenn Gewitter auch das Blau vom Himmel fegt. / Die ersehnte Stunde kommt, sie ist schon nah, / dröhnen werden unsre Schritte, wir sind da!“. Das berühmteste jüdische Partisanenlied, geschrieben 1943 von Hirsh Glick im Ghetto von Vilnius, erzählt vom bewaffneten Widerstand. Wie sie da am Bühnenrand stehen, eher leiser werden, tastend, schwingt Trauer mit und Wut und vielleicht auch die Frage, was jetzt noch kommt und ob man gewappnet ist.

Das ist der denkbar größte Kontrast zum Beginn von „East Side Story – A German Jewsical“ am Berliner Gorki Theater: Da stürmen die Spieler*innen glitzernd die Vorbühne, tanzen und singen sich um Kopf und Kragen, als wäre das hier Barrie Koskys Komische Oper (nur nicht so perfekt): „Oh Theater! Oh ja, Theater! / Ich tanz schon 3 Minuten, das gibt n Muskelkater“. Oder auch: „Fahr Linie1 bis zum Starlight Express, / Und wenn schon keine Revolution, dann – wenigstens – etwas Exzess.“

Wenn schon keine Revolution, dann Exzess

Mit dem Exzess ist es dann aber gar nicht so weit her. Juri Sternburg, der einst als vielversprechender Theaterautor begann und dann beim Film Karriere machte, erzählt ziemlich stringent eine jüdische Berliner Familiengeschichte als Exempel, vom Kriegsende bis zur Wiedervereinigung. (Stief-)Vater Kommunist, Mutter aus einer großbürgerlichen jüdischen Familie, die Schwestern Gerda und Renate uneins: Renate kämpft für eine gerechtere Gesellschaftsordnung, Gerda ums Überleben; später setzt sie sich nach New York ab. So richtig glücklich wird hier niemand von ihnen, die der Mordmaschinerie der Nazis entkommen sind. Warum das so ist, das erzählt die tote Halbschwester Dora anhand dreier Grundkonflikte: Mensch gegen Mensch, Mensch gegen System, Mensch gegen sich selbst.

EastSideStory1 1200 Langkafel MAIFOTOFamiliengeschichte durch die Zeiten: Nairi Hadodo, Sesede Terziyan, Jasna Fritzi Bauer, Lindy Larsson in „East Side Story“ © Ute Langkafel MAIFOTO

Dass Sternburg, Teil der großen deutsch-jüdischen Theaterfamilie Langhoff, Dora zur Erzählerinnenfigur macht, ist ein kluger Schachzug. Sie kann Metaebenen etablieren, Diskurse zusammenfassen und bissig Charaktere und Zeitläufte kommentieren, ohne dass das Dialoge überstrapazieren würde. Er nutzt sie auch für eine späte, kluge Perspektivverschiebung, die die Geschichte zum Schluss noch einmal in ein völlig neues Licht rückt. Davor aber lässt er sich Zeit, erzählt insbesondere vom Aufbruch in der jungen DDR, dem Wiedereinzug in die Wohnung, von Schwarzmarkt und neuer Hoffnung. Und würzt das durchaus mit (bösen) Pointen: „Der Hermann war ja auch im Untergrund.“ – „Rote Kapelle? 20. Juni? Gruppe Stauffenberg?“ – „Kanalarbeiter.“

Musikband auf dem Dach

Dass das alles auch noch ein Musical ist mit vierköpfiger Band, mit Liedern zwischen Song und Rap und gelegentlicher Choreografie, macht die Sache einerseits leichter (zu verdauen), andererseits schwerer, weil man die Widersprüche aushalten muss. Paul Eisenachs und Wenzel Krahs Musik braucht auch eine Weile, um sich zwischen großer Showparodie, Zitaten und Texten, die sich dem nächstliegenden Reim ergeben, einen eigenen Ton zu entwickeln. Was zum Beispiel in „Hab ich das gesagt oder nur gedacht?“ gelingt, in dem Sprechen und Singen ineinander übergehen und rhythmisch zwingend das Staunen beglaubigen, das sich in einer Situation oder einem System einstellt, in der oder dem man nicht frei sprechen kann.

Lena Brasch – ihrerseits Spross einer berühmten deutsch-jüdischen Familie – inszeniert das erfreulich geradlinig als packende Geschichte. Das Studio Dietrich&Winter hat ein Gebäude auf die Drehbühne gestellt, das auf der einen Seite die Ruine eines bürgerlichen Altbaus ist und auf der anderen eine neusachlich halbrunde Mendelsohn-Ecke. Oben auf dem Dach sitzt die Band.

Ich packe meinen Koffer…

Toll sind auch Eleonore Carrières Kostüme. Denn Brasch will keine Sepiafarben, keine korrekte Geschichtsstunde. Hier vibriert das Leben, weil diese stilistisch durchaus an die späten 40er, frühen 60er Jahre angelegten Kleider problemlos als zeitgenössisch durchgehen. Wie ja auch die Figuren allwissend sind, von Solingen und Mölln und Hoyerswerda sprechen, obwohl das noch weit in ihrer Zukunft liegt.

EastSideStory 05A3953Ute Langkafel MAIFOTOVibrierendes Leben: „East Side Story“ am Berliner Maxim Gorki Theater mit Kostümen von Eleonore Carrière © Ute Langkafel MAIFOTO

Dass diese Figuren wirklich lebendig werden, obwohl der Abend in seinen 135 pausenlosen Minuten immer schneller durch die Geschichte eilt, liegt aber natürlich in erster Linie an den Spielenden. Obwohl Sesede Terziyan und Nairi Hadodo ihre gegensätzlichen Schwestern klar umreißen, sind sie fein schattiert. Allein, wie sie den etwas spröden Beginn mit dem „Ich packe einen Koffer und nehme mit“-Spiel mit Leben füllen, ist bewundernswert.

Erst allmählich schält sich Jasna Fritzi Bauers Dora als geheime Hauptfigur heraus, klar und funkelnd über einem Abgrund aus Trauer. Hinreißend einmal mehr Lindy Larsson als Mutter, während Edgar Eckert als Schwarzmarkt-Mendel stärker funkeln kann denn als Vater. Wird man je vergessen, wie bodenständig Anastasia Gubareva den Hans-Albers-Schlager „La Paloma“ auf Russisch singt? Oder wie sie, plötzlich ganz zärtlich, das „Baruch atah Adonai“ anstimmt? Klara Deutschmann und Fridolin Sandmeyer skizzieren die selbstgerechten Deutschen mit Erinnerungslücken: Waren andere Zeiten.

Trauer und Wut

Sie alle spielen das mit einem Hauch Expressionismus, mit schwarzer Kontur. Dass sie singen können, weiß man als regelmäßiger Gorki-Besucher. Aber man genießt es wieder, wie sie sich alle ins Zeug legen, ob Bauer mit dem wirklich tollen Song „Der Mensch gegen das System“ oder Hadodo mit „Neon Signs“. All die Verzweiflung, die Trauer, die Wut, als Jüdin und Jude in Deutschland immer eine Rolle zugewiesen zu bekommen, nie ganz zu Hause zu sein, sie vibriert nicht zuletzt in diesen Liedern. Und der Wunsch danach, solidarisch zusammenzustehen, wenn’s mal wieder drauf ankommt.

East Side Story – A German Jewsical
von Juri Sternburg mit Songs von Paul Eisenach
Regie: Lena Brasch, Bühne: Studio Dietrich&Winter, Kostüme: Eleonore Carrière, Künstlerische Mitarbeit Kostüm: Julia Radewald, Komposition: Paul Eisenach, Co-Komposition: Wenzel Krah, Choreografie: Zarina Stahnke, Lichtdesign: Murat Özuzun, Stimmcoaching: Turan von Arnim, Dramaturgie: Simon Meienreis.
Mit: Jasna Fritzi Bauer, Klara Deutschmann, Edgar Eckert, Anastasia Gubareva, Nairi Hadodo, Lindy Larsson, Fridolin Sandmeyer, Sesede Terziyan; Wenzel Krah (Bandleader), Gidon Carmel, Fee Aviv Dubois, Izzy Ment, Albertine Sarges.
Urauffühung am 18. Dezember 2025
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.gorki.de