Wenn Amelie und Jonas aus dem Fenster gucken, ist da weit und breit kein lästiges Nachbarhaus, das Sicht und Licht rauben könnte. Stattdessen: das glitzernde Meer – und ein paar Container. Manchmal schiebt Jonas das bodentiefe Fenster gleich am Morgen auf, springt kopfüber hinaus ins Wasser. Manchmal trifft er Enten und Schwäne. Dann schwimmt er, schwimmen sie eine Weile umher, bevor Jonas wieder in den dunkelblauen Container steigt, duscht, frühstückt und zur Arbeit radelt.
Seit vier Jahren wohnt das Paar aus der Region Stuttgart in Kopenhagen – in einem ausgebauten Schiffscontainer am Pier der Halbinsel Refshaleøen. Der Container sitzt zusammen mit weiteren Containern auf einem schwimmenden Ponton, der ans Festland angedockt ist. Insgesamt liegen sechs Container-Inseln nebeneinander im Wasser. Urban Rigger heißt die Anlage, umgesetzt vom Büro des dänischen Architekten Bjarke Ingels, die Wohnraum für Studierende geschaffen und sich mittlerweile auch für andere Personengruppen geöffnet hat.
Besuch schläft auf der Couch – oder im Nachbarcontainer
Amelie und Jonas haben 30 Quadratmeter Wohnfläche und einen kleinen Balkon gemietet, dazu kommen ein Innenhof, eine Dachterrasse und ein Gemeinschaftsraum, den sie sich mit den anderen Rigger-Bewohnern teilen. Von innen ist ihr Container mit hellem Bambusholz verkleidet. Es gibt nur einen großen Raum; ein kleines Badezimmer in der Mitte teilt ihn in eine Schlafnische und einen Wohnbereich. Wer zu Besuch kommt, schläft auf der Couch. Oder im Container der Nachbarn, falls die gerade im Urlaub sind.
Der blaue Container, das Zuhause von Amelie und Jonas. Foto: privat
Jonas ist mein Bruder. Er und Amelie kennen sich schon aus ihrer Schulzeit in Kirchheim/Teck (Kreis Esslingen) und haben auch in Süddeutschland studiert. Bis es Amelie für ihr Praxissemester 2021 nach Kopenhagen verschlug – und ihr die Agentur dort anbot, sie nach dem Studium zu übernehmen. Sie sagte zu. Kurz darauf zog Jonas aus seiner Stuttgarter WG aus und kam nach. Als er die Container auf dem Meer zum ersten Mal sah, war für ihn klar: Dort wollte er wohnen. Amelie war anfangs skeptisch. „Ich wäre damals lieber in eine normale Stadtwohnung gezogen“, sagt sie. Inzwischen ist sie selbst Container-Fan und froh über die Entscheidung.
„Die Größe zwingt einen, kreativ zu sein“
Mit dem beschränkten Platz kommen die 29-Jährige und der 30-Jährige gut aus. „Die Größe zwingt einen, kreativ zu sein“, sagt Amelie. „Das mag ich.“ Als sie im Container ankamen, hatten sie ohnehin wenige Habseligkeiten. „Wir sind mit dem Koffer nach Kopenhagen gezogen“, erinnert sich Jonas. Weil sie keinen Tisch hatten, picknickten die beiden anfangs auf dem Fußboden.
Dann zogen nach und nach ein paar Möbel ein. Ein Cordsofa in Beige, Stühle im artek-Stil, Chromlampen von Verner Panton. Alles schlicht und Secondhand. Nur das Ziehharmonikabett kauften sie neu. Mit variabler Breite, falls sie eines Tages aus dem Container ausziehen und mehr Platz haben sollten. Auf Geräte wie einen Wasserkocher oder eine Kaffeemaschine verzichten Amelie und Jonas bewusst, denn Platz zum Aufstellen und Verstauen gibt es kaum.
Im Innern des Containers finden sich viel Chrom und Beige – und ein paar Farbtupfer. Foto: privat
Nicht nur die Lage auf dem Meer schätzen die beiden. Auch die Gemeinschaft war ein Grund, sich für einen der Container zu bewerben. Das Ensemble ist so angelegt, dass sich die Menschen über den Weg laufen. Amelie und Jonas sind inzwischen mit vielen Nachbarinnen und Nachbarn befreundet, verabreden sich mit ihnen zum Kochen oder zum Baden im Meer.
Die Affinität der Stadt für gutes Design und grüne Technik passen zu den Berufen der beiden: Amelie ist Kommunikationsdesignerin, Jonas Elektroingenieur mit Fokus auf erneuerbare Energien. Beide begeistern sich zudem für gutes Essen und bewegen sich inmitten der umtriebigen Food-Szene, die sich im Dunstkreis des Sternerestaurants Noma – nur ein paar Spazierminuten vom Container entfernt – entwickelt hat.
Immer wieder eröffnen neue Cafés und Restaurants. Die meisten von ihnen eint der Fokus auf regionale, saisonale und minimalistische Gerichte und das dazu passende Faible für fermentierte Lebensmittel im Sinne des Nordic Fine Dining.
Im Baka d‘ Busk etwa gibt es fabelhaftes fermentiertes Gemüse, bei Fabro gibt es Pasta mit feinen Soßen, in der Lille Bakery gleich bei den Containern gutes Sauerteigbrot. Und bei Eat Wasted, einem Start-up, das Nudeln aus altem Brot herstellt, packen Jonas und Amelie immer wieder selbst mit an. Bei einem Event haben die beiden für mehr als 100 Personen Brotnudeln gekocht.
Gibt es Dinge, die sie vermissen an der schwäbischen Heimat? „Das Laugengebäck“, sagt Amelie sofort – und lacht. „Und die Familie ist schon weit weg.“ Überrascht hat beide, wie schwer man es als Vegetarier in Kopenhagen hat. „Neben dem hippen gibt es auch noch das andere, das alte Kopenhagen – mit viel Schweinefleisch und mit dunklem Holz vertäfelten Bodegas“, sagt Amelie. Und Jonas kommt noch ein anderes Thema in den Sinn: „Wir finden vieles toll in Dänemark, die restriktive Migrationspolitik gehört aber nicht dazu“, bemerkt er.
Auch das unbeständige Wetter kann herausfordernd sein. In den Wintermonaten, wenn sich Kopenhagen windig und grau gibt, freut sich das Paar umso mehr über die ausgeprägte Saunakultur – und sein gemütliches Zuhause. Wenn es stürmt, schaukeln die Wellen dem Container sanft auf und ab. Die großen Fenster lassen viel Licht herein. Der Blick aufs Wasser wirkt beruhigend.
Auch in den dunklen Monaten zieht es die beiden nach draußen. Zusammen mit ihren Nachbarn wagen sie sich selbst im Januar ins fünf Grad kalte Wasser und machen ein paar Züge – vor ihrem blauen Container im Meer. Einmal tauchte dort sogar eine Robbe auf.
Container schwimmen auf dem steigenden Meeresspiegel
Ursprünge
Im Jahr 2013 bekam der dänische Unternehmer Kim Loudrup mit, wie schwierig es für seinen Sohn war, eine Wohnung in Kopenhagen zu finden – die Idee mit den schwimmenden Frachtcontainern als Wohnanlage für Studierende war geboren. Der Architekt Bjarke Ingels setzte das Projekt um.
Energie
Der Rigger ist mit moderner Technologie wie Solarmodulen, einem wasserbasierten Heizsystem und energiesparenden Pumpen für Wasser, Wärme, Belüftung und Abwasser ausgestattet.
Vision
Das Konzept der Container-Inseln wird auch über Kopenhagen hinaus als potenzielle Lösung für städtische Wohnprobleme und die Anpassung an den Klimawandel diskutiert. Ein Vorteil des Projekts ist etwa, dass es in Städten mit begrenztem Bauland Wohnraum auf ungenutzter Wasserfläche schaffen kann und sich durch die modulare Bauweise schnell umsetzen lässt. Die Rigger lassen sich sogar versetzen. Und: Steigt der Meeresspiegel, schwimmen sie einfach mit dem Wasserstand mit.