Punkt 20 Uhr betreten die vier Musikarbeiter, wie sich die Kraftwerker nennen, die Bühne im Münchner Zenith. Vier Männchen hinter elektronischen Arbeitstischen. In ihren ikonischen, eng anliegenden Netzgitter-Anzügen, die die Farbe wechseln können. Im Hintergrund zählt eine tieffrequente Computer-Stimme aus den Lautsprechern: „Eins, zwei, drei, vier“ – mit „Nummern“ starten sie – und es geht in einen weiteren Band-Klassiker über: „Computerwelt“.
Hinter den Vieren hängt eine riesige, lichtintensive Leinwand, die grell-helle Knallfarben zeigt: Viele Fans zücken sofort die Handys – aber fast keines bewältigt das starke Licht. Ralf Hütter, einzig verbliebenes Gründungsmitglied und Kopf von Kraftwerk steht ganz links, nur er hat ein Headset-Mikro um. Und singt die sparsamen Textzeilen. „Halb Wesen, halb Ding“ („Menschmaschine“) oder „Wir fahr’n, fahr’n auf der Autobahn“ („Autobahn“) – das Stück, das sie 1974 weltbekannt machte. Begleitet von einem animierten Video einer Autobahnfahrt in den 70er-Jahren.
Tosender Applaus
Der Song wird mit tosendem Applaus bedacht – wie auch der Moment im Video zu „Spacelab“, in dem ein Ufo in München neben der Frauenkirche landet. Großes Gelächter. Ihr internationaler Hit „Das Model“ zeigt Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus den 60er-Jahren: Models bei der Arbeit. Neben „Tour de France“ mit seinen ebenfalls grobkörnigen S/W-Archivbildern vom berühmten französischen Radrennen das einzige, nicht animierte Video.
Die Visuals werden von Jahr zu Jahr besser, so wie sich die Sounds von Kraftwerk der Zeit anpassen: technoider, bass-lastiger, tanzbarer. Überraschend: Hütter unterbricht das Konzert an einer Stelle und spricht über ihren 2023 verstorbenen Freund, den japanischen Electro-Pionier Ryuichi Sakamoto – ein Foto zeigt die beiden. Sakamoto hat ihnen 2012 – nach dem Atomunfall von Fukushima – ein paar Zeilen auf Japanisch geschrieben, für das Stück „Radioaktivität“. Im Gegensatz zu früher ist der Text inzwischen politisch eingefärbt: „Stop Radioaktivität!“
Auch für Melancholie ist Platz
Die Texte von Kraftwerk sind gewohnt mehrsprachig: Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch – bei der einzigen Zugabe „Die Roboter“ – auch Russisch. Kraftwerk verorten sich an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine. Man merkt: Die umjubelten Stücke stammen aus einer Zeit, als es noch einen ungebrochenen Fortschritts-Glauben gab.
Für Melancholie ist trotzdem Platz im Münchner Zenith: bei den Stücken „Metropolis“ und „Neonlicht“ und ihrem schimmernden Retro-Futura-Pop. Von richtigen Gefühlen ist nur einmal die Rede: „Ich bin allein heut‘ Nacht, ich brauch’ ein Rendezvous“ aus dem Song „Electric Café“. Sonst herrscht bei ihnen der eher nüchterne Ingenieurs-Blick.
Das Publikum ist begeistert. Viele dürften – vom Aussehen her – schon mehrere Konzerte gesehen haben. Dazwischen aber auch viele Jüngere. Nach zwei Stunden bzw. am Ende von „Musique Non-Stop“ verlässt einer nach dem anderen die Bühne: Als sich der 79-jährige Ralf Hütter am Rand der Bühne verbeugt, gibt es noch einmal tosenden Applaus. Der Abend war ein audiovisuelles Meisterwerk. Man könnte das abgefilmte Konzert auch in einem Museum für Gegenwarts-Kunst laufen lassen. Denn da gehört die Formation längst hin. Kraftwerk sind die einflussreichste Band aus Deutschland. Wenn eine Gruppe die Auszeichnung „Weltkulturerbe“ verdienen würde, dann sie.