Miroslav Nemec und Udo Wachtveitl haben Charles Dickens Weihnachtsgeschichte zur Musik von Libor Šíma gelesen.
Ein ausgestreckter Arm reckt sich auf die Bühne, hält ein Glöckchen, der zweite Arm taucht auf und schlägt es. Die Musikerinnen sind schon auf ihren Plätzen, stehen auf leuchtenden, flachen Podesten, haben sich die großen, weißen Flügel von Engeln umgeschnallt. Und zwei Herren erscheinen, mit weißem Haar, beide gekleidet in kurze, altertümliche Mäntel: Miroslav Nemec und Udo Wachtveitl sind da, am Samstagabend in der Liederhalle, um jene Weihnachtsgeschichte vorzutragen, die fast so bekannt ist wie die vom Kind in der Krippe.
„A Christmas Carol“, veröffentlicht am 19. Dezember 1843, wurde unzählige Male adaptiert, lieferte die Vorlage für Kino-, Fernseh-, Animationsfilme, Musicals, Bühnenstücke, Hörspiele. Albert Finney, George C. Scott, Bill Murray, Patrick Stewart, Jim Carrey, Kermit, der Frosch, und viele andere spielten den Geizhals Ebenezer Scrooge. Dagobert, raffgieriger Onkel von Donald, trägt im Original den Namen Scrooge McDuck.
Nun also übernehmen Nemec und Wachtveitl den Fall. Die beiden Schauspieler sind bekannt in den Rollen der Münchner Tatort-Kommissare Ivo Batic und Franz Leitmayr. Im neuen Jahr werden sie sich, nach ihrer 100. Tatort-Folge, vom Publikum verabschieden. Ihre „Weihnachtsgeschichte“ mag wie ein Abschiedsgeschenk anmuten, wurde von ihnen jedoch vor neun Jahren zum ersten Mal gespielt.
Libor Šíma, Solo-Fagottist des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart, Saxofonist und Komponist, schrieb dem Duo die Musik zur Geschichte auf den Leib. Das Streichensemble umspielt die Erzählung sanft oder dramatisch, lässt Erinnerungen an Weihnachtslieder aufklingen, zaubert finster melancholische Stimmung: „Der Nebel“, spricht Miroslav Nemec, „war so dicht, dass die gegenüberliegenden Häuser nur noch Schemen waren.“
Eine Stadt voller Finsternis und Armut
Das ist London, zur Zeit des Charles Dickens: Eine Stadt voller Finsternis und Armut. Geht der Geizhals, geführt von seinen Geistern, durch die winterlichen Straßen, sieht man im Hintergrund der Bühne vage Hausfassaden leuchten. Sonst verzichtet die Inszenierung auf Effekte, setzt ganz auf die Musik und die Persönlichkeit der Rezitatoren.
Charles Dickens erzählt von Scrooge, dem bitteren alten Mann, der sein Geld zählt und das Fest verachtet. Am Weihnachtsabend wird er sich wandeln, zum guten und spendablen Menschen, nachdem der Geist seines früheren Geschäftspartners Marley und die drei Geister der Weihnacht ihm vor Augen führten, wie verfehlt sein bisheriges Leben war.
Miroslav Nemec ist Scrooge. Martin Mühleis, Regisseur, Bühnenbildner und Autor der Textfassung des Lesestücks, lässt ihn in der ersten Person erzählen. Udo Wachtveitl derweil wechselt die Rollen, spielt Scrooges Neffen Fred, den Angestellten Bob Cratchit, vor allem aber die drei Geister. Auch er spricht oft in der ersten Person, tritt manchmal aus seiner Rolle heraus, wendet die Weihnachtsgeschichte ins Komische.
Das Zusammenspiel des vertrauten Duos tritt mehr und mehr vergnüglich in den Vordergrund. Nemec, erst noch ganz der grantige Fels in der Brandung, beginnt zu wanken, zu erweichen. Man sieht ihn, tief schlafend auf seinem Pult. Wachtveitl tritt auf, als forscher, geschäftiger Geist der gegenwärtigen Weihnacht, zeigt ihm die Menschen, die vergnügt sind, obschon arm, und feiern. Und schließlich ist da der Geist der künftigen Weihnacht, ein finsterer Gesell eigentlich, eisig und stumm – Udo Wachtveitl hat sich ein schwarzes Tuch über den Kopf gelegt und irrt blind, stolpernd, umher, springt von der Bühne, verschwindet.
Konventionell, aber mit viel Liebe erzählt
Miroslav Nemec und Udo Wachtveitl erzählen ihre Geistergeschichte zur Weihnachtszeit konventionell, aber mit viel Liebe zu ihren Figuren, zum Erzählen selbst. Eine Wandlung des Menschen scheint im 21. Jahrhundert fast noch unwahrscheinlicher, als zur Zeit des Charles Dickens – aber es ist Weihnachten und Wunschträume zumindest sind gestattet, auch in Stuttgart.