Es ist eine dieser Weisheiten im Sport, deren Gültigkeit schon mehrfach unter Beweis gestellt wurde: „Die Offensive gewinnt Spiele, die Defensive Meisterschaften.“ Beim Versuch einer Adaption dieser Sport-Weisheit auf den 1. FC Union Berlin würden sie einen alle etwas komisch anschauen – die Fans, die Spieler, die Verantwortlichen um Geschäftsführer Horst Heldt, aber vor allem wohl Trainer Steffen Baumgart. Mit dem Gewinn der Meisterschaft möchten die Köpenicker nun wirklich nicht in Verbindung gebracht werden. Ihr jährlicher Titel ist der Klassenerhalt – Demut statt Größenwahn.

1. FC Union Berlin nur fünf Punkte hinter europäischen Plätzen

Dementsprechend galant wurden am frühen Samstagabend die Fragen nach dem Blick auf die Tabelle beiseite gewischt. 21 Punkte haben die Eisernen mit dem 1:0 (0:0) beim 1. FC Köln nach dem letzten Spiel des Jahres 2025 bereits gesammelt, fünf Zähler Rückstand auf die internationalen Plätze sind es beim Jahreswechsel nur noch. Auf der anderen Seite der Bundesliga-Tabelle kann der Abstand zur Abstiegszone nach den Sonntagsspielen maximal zehn, mindestens aber sieben Zähler betragen.

Und: Die Hinrunde ist ja noch nicht mal vorbei, sondern wird aus Union-Sicht mit einem Heimspiel gegen Mainz (10. Januar) und wenige Tage später in Augsburg (15. Januar) beendet. Fakt ist, dass der 1. FC Union Berlin schon jetzt die Hälfte der vor jeder Bundesliga-Saison ausgerufenen 40-Punkte-Marke geknackt hat. Das haben die Eisernen zum selben Zeitpunkt in vorher sechs Jahren Erstliga-Zugehörigkeit dreimal geschafft: 2020/21, 2021/22 und 2022/23. Jedes Mal qualifizierte sich die Mannschaft am Ende der Saison für einen europäischen Wettbewerb.

Grundlage dieses Erfolgs war dabei jedes Mal die Defensive, zweimal kassierte die Mannschaft 20 Gegentore, einmal 21. Aktuell sind es 23 Gegentreffer, die der 1. FC Union Berlin hinnehmen musste. Dass es mit gerade einmal 20 eigenen Treffern offensiv noch etwas hakt, soll beim Blick auf die Europasaisons nicht stören. Im besten Fall waren es mal 31 Tore, im schlechtesten auch nur 22. Meisterschaften haben die Köpenicker damit nicht gewonnen, der Einzug in die Conference, Europa und Champions League aber sind nicht minder viel wert.

Die Defensive beim 1. FC Union Berlin gewinnt seit der Bundesliga-Zugehörigkeit Spiele statt Titel. Sechs sind es nun nach dem Sieg in Köln zum Jahresabschluss in dieser Saison, zwölf im gesamten Kalenderjahr 2025 unter Steffen Baumgart. 45 Punkte hat er saisonübergreifend mit einer Mannschaft, die von manchen Experten als Abstiegskandidat gehandelt wurde, geholt. Auf den sicheren Klassenerhalt in der vergangenen Saison ist er jetzt auf dem besten Weg, diesen Erfolg zu wiederholen.

Der schönste Fußball, das weiß Baumgart selbst, wurde beim knappen 1:0 in Köln mal wieder nicht gespielt. Das aber ist gar nicht der Anspruch, den der Trainer an die Mannschaft stellt. Es sind die eisernen Tugenden, die er von seinen Spielern einfordert. Bei seiner Rückkehr zum Ex-Klub in der Domstadt sei nicht absehbar gewesen, die drei Punkte mitnehmen zu können, sagte Baumgart. „Wenn wir uns hier über ein 0:0 unterhalten, hätten alle gesagt, dass das normale Ergebnis ist. Zum Schluss konnten wir den Lucky Punch setzen und nehmen den Sieg, wissen aber auch, dass es heute ein glückliches Ergebnis war.“

Der Mannschaft aber war das gelungen, was sie schon gegen vermeintlich stärkere Teams wie den VfB Stuttgart, Eintracht Frankfurt oder RB Leipzig gezeigt hat. Mit großer Leidenschaft und Disziplin in der eigenen Defensive, und damit ist bei den Eisernen nicht nur die Abwehr gemeint, wurde dem Gegner zwar der Ball über weite Strecken der Partie überlassen, ihm aber mit engen Räumen nicht nur die Lust am Spiel genommen, sondern die Verzweiflung so groß werden lassen, dass man offensiv keine Optionen mehr sieht und im Zuge dessen selbst Fehler produziert.

Die erste von zwei spielentscheidenden Szenen: Schiedsrichter Christian Dingert zeigt Rav van den Berg (r.) vom 1. FC Köln die Rote Karte.

Die erste von zwei spielentscheidenden Szenen: Schiedsrichter Christian Dingert zeigt Rav van den Berg (r.) vom 1. FC Köln die Rote Karte.Moritz Eden/City-Press

Deren zwei waren es schlussendlich beim 1. FC Köln: die Rote Karte gegen Rav van den Berg nach einem Handspiel als letzter Mann und der verpasste Klärungsversuch vor dem 1:0-Siegtreffer von András Schäfer. „In der ersten Hälfte haben wir es recht ordentlich gemacht, keine Konter zugelassen, haben selbst drei, vier Einschussgelegenheiten, ohne dass da eine hundertprozentige dabei gewesen ist“, sagte Kölns Trainer Lukas Kwasniok. Aber: „In der zweiten Halbzeit haben wir nicht mehr so den Weg zum Tor gefunden, haben diese eine Eckballsituation zu überstehen, wo Marvin Schwäbe sensationell hält. Danach wurden wir etwas fahriger und so entsteht da auch die Rote Karte, die am Ende spielentscheidend ist. Fußball ist ein Fehlersport, wir haben heute leider zwei zu viel gemacht.“

Erst RB Leipzig, dann 1. FC Köln mürbe gemacht

Wie schon eine Woche zuvor beim 3:1-Sieg gegen RB Leipzig hat der 1. FC Union Berlin den Gegner erst mürbe gemacht und dann zugeschlagen, wenn sich auf der Gegenseite Fehler im Spiel eingeschlichen hatten. In Köln haben die Eisernen zum ersten Mal in dieser Saison einem Sieg einen zweiten folgen lassen. In Euphorie versetzte das aber niemanden. „Für uns ist das ein ganz wichtiger Auswärtssieg. Wir haben jetzt 21 Punkte nach 15 Spielen, das bedeutet, dass wir eine ruhige Weihnachtspause haben können“, sagte Schäfer nach dem Spiel.

In der Tabelle nach oben wollte er noch nicht blicken. Er hat mit den Eisernen schon in der Europa League gespielt, die Qualifikation für die Champions League geschafft, aber auch in den vergangenen zwei Jahren gegen den Abstieg gespielt. Das hat ihn und die Mannschaft wieder mehr Demut gelehrt, vor jeder nächsten Aufgabe. Beim 1. FC Union gewinnt die Defensive Spiele und alles andere als der Klassenerhalt ist eine Zugabe.