Herr Marshall, Sie sind Sänger, Moderator, Schauspieler, Produzent, Komponist, Entertainer: In welcher Rolle fühlen Sie sich am wohlsten?
MARC MARSHALL: Stimmt, im Grunde genommen fülle ich alle diese Rollen aus. Aber tatsächlich sehe ich mich selbst nicht in einer festen Schublade. Ich bin einfach Marc, und das reicht mir. Ich verstehe, dass es in unserer Gesellschaft oft notwendig ist, sich einem bestimmten Label zuzuordnen, sei es für die Medien oder für die Öffentlichkeit. Alles, was ich tue, trage ich in mir und gehe mit großer Hingabe an die Dinge, die ich gerade mache.
Als Sänger stehen Sie seit fast 55 Jahren auf der Bühne. Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Auftritt?
An meinen allerersten Auftritt kann ich mich nicht wirklich erinnern, ich weiß nur noch, in welcher Umgebung das war – es war natürlich im Zusammenhang mit meinem Papa. Der erste bezahlte Auftritt, an den ich mich aber sehr gut erinnere, war am 24. April 1971 in Baden-Baden. Da war ich sieben Jahre alt. Noch früher, als ich sechs war, war ich mit meinem Papa in Chicago, wo ich sechs Wochen lang jeden Abend auf der Bühne gestanden habe. Diese frühen Erlebnisse haben mich sehr geprägt und sind bis heute ein wichtiger Teil meiner Erinnerung.
War es schwer für Sie, im Schatten Ihres berühmten Vaters Tony Marshall aufzuwachsen?
Das kommt auf die Perspektive an. Als Kind war es ein Geschenk, in einer solchen Umgebung aufzuwachsen, die mir viele wertvolle Erfahrungen brachte, als Sohn eines so großen Künstlers und Interpreten. Ich hatte das Glück, ihn noch in Zeiten zu erleben, bevor er ein Star war. Aber medial und gesellschaftlich gesehen war es eine Bürde. In Deutschland neigt man dazu, Menschen schnell in Schubladen zu stecken, und oft wurde mir unterstellt, dass ich nur wegen meines Vaters erfolgreich sein konnte. Doch das ist überhaupt nicht der Fall. Vielmehr waren die Türen eher verschlossen, und ich musste sie selbst öffnen. Das hat mich dazu gebracht, mich selbst intensiv weiterzuentwickeln und immer mehr zu geben, als man vielleicht von mir erwartet hätte.
Was haben Sie von Ihrem Vater gelernt beziehungsweise, was war für Sie das Wichtigste, das er Ihnen mitgegeben hat?
Vor allem, dass man diesen Beruf nicht aus dem Wunsch nach Ruhm ausübt, sondern weil man seiner eigenen Natur folgt. Es geht darum, sein Leben dem Talent zu widmen und nicht nur nach den zählbaren Dingen zu streben. Ich finde, dass diese Orientierung in der heutigen Zeit verloren gegangen ist, vor allem durch die zunehmende Bedeutung von Social Media. Wir sind anders aufgewachsen. Bei uns ging es darum, das eigene Talent zu erkennen, sich durch Ausbildung und Willen immer weiterzuentwickeln und das Beste aus sich herauszuholen. Was mir mein Vater auch mitgegeben hat, ist die Nähe zum Publikum. Man muss die Menschen mögen, dann fällt es einem leichter, sich zu öffnen und echt zu sein. Papa war immer authentisch, er war auf der Bühne genauso wie neben der Bühne; er spielte keine Rolle, sondern war einfach der, der er war.
So gesehen war Ihre Künstlerkarriere programmiert. Hätten Sie sich trotzdem einen Beruf außerhalb des Showbusiness vorstellen können?
Wenn es wirklich anders hätte kommen müssen, dann könnte ich mir vorstellen, in der Gastronomie gelandet zu sein, weil meine Eltern ein Lokal hatten. Das wäre ein Beruf gewesen, den ich mir durchaus hätte vorstellen können. Aber meine Karriere war eben nicht programmiert durch meinen Vater, sondern durch mein eigenes Talent. Das ist für mich ein ganz wichtiger Punkt: Ich bin nicht Sänger geworden, weil mein Papa das war, sondern weil ich selbst eine Leidenschaft für die Bühne hatte. Ich habe das Talent, das mir in die Wiege gelegt wurde, erkannt und wollte es mit anderen teilen. Diese Lust, mein Talent mit den Menschen zu teilen, verfolge ich bis heute.
„Ich habe das Talent, das mir in die Wiege gelegt wurde, erkannt und wollte es mit anderen teilen.“
Sie waren viele Jahre mit Jay Alexander als Duo unterwegs. Fehlt Ihnen die Zusammenarbeit?
Nein, überhaupt nicht. Wir hatten eine wunderbare Zeit zusammen, über zwei Jahrzehnte lang, und haben gemeinsam große Erfolge gefeiert. Aber jetzt befinde ich mich in einem neuen Lebensabschnitt, der mich vollkommen erfüllt. Ich habe keine Sehnsucht nach der Zusammenarbeit, sondern bin einfach dankbar für all das, was wir zusammen erreicht haben. Jetzt liegt mein Fokus voll auf mir selbst, und das tut mir sehr gut.
Wie hat sich Ihrer Beobachtung nach die Musik in den vergangenen Jahrzehnten verändert und was hat sich dadurch für Sie verändert?
Heutzutage kann man mit viel Technik Dinge erschaffen, die früher undenkbar waren. Das hat zu einer großen Fake-Kultur in der Branche geführt, bei der das Handwerk nicht mehr im Vordergrund steht. KI und die Art, wie Musik und Künstler präsentiert werden, sind viel wichtiger geworden als das eigentliche Können. In der Zeit, in der mein Vater groß wurde, war das noch anders – da musste man wirklich liefern und konnte sich nur mit einem soliden handwerklichen Background als Künstler etablieren. In der DDR etwa war es sogar notwendig, ein Zeugnis abzuliefern, um diesen Beruf ausüben zu dürfen. Heute ist es viel chaotischer, und das finde ich bemerkenswert. Ich möchte das nicht bewerten, aber es ist definitiv eine große Veränderung.
Sind ChatGPT und Co. für Sie ein Thema? Nutzen Sie das?
Nein, ich habe ChatGPT und ähnliche Technologien bis heute nicht genutzt. Ich finde es bedenklich, dass der Mensch durch solche Technologien das selbstständige Denken verliert. Nicht selten höre ich, dass junge Menschen mittlerweile darüber kommunizieren und gar nicht mehr hinterfragen, ob das, was sie lesen oder weitergeben, überhaupt stimmt. Dieser Verlust von kritischem Denken und Allgemeinbildung ist schade und auch besorgniserregend.
Kommen wir doch zu den schönen Dingen zurück: Sie gehen ab Ende Dezember mit den Fünf Tenören auf Tour. Wie kam es eigentlich zu den Arrangements?
Ich wurde vom Veranstalter gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, als Gast dabei zu sein. Die Produktion gibt es ja schon seit einigen Jahrzehnten und war sehr erfolgreich. Sie wird moderiert von Andrea Hörkens, die auch eine großartige Künstlerin ist. Als sie mich gefragt haben, war das sofort klar, dass es funktioniert. Jetzt bin ich, glaube ich, zum dritten oder vierten Mal dabei. Ich darf meine Songs mit dem Orchester singen und singe dieses Jahr auch zum ersten Mal ein Duett mit einem der Tenöre. Außerdem gibt es ein weiteres Duett mit Andrea Hörkens. Das ist eine großartige Sache, und ich freue mich sehr darüber.
Vorher stehen noch Weihnachten und Silvester an. Wie verbringt Familie Marschall die letzten sieben Tage des Jahres?
Weihnachten ist immer eine große Herausforderung, die gesamte Familie, die ja stetig wächst, an einen Tisch zu bringen. Am ersten Weihnachtsfeiertag haben wir dann alle Enkel und Kinder um uns, und die große Tafel ist reich gedeckt mit gutem Essen und Trinken – das ist immer ein wunderschöner Moment. Silvester werde ich zunächst ein Konzert mit den Tenören um 17 Uhr in Offenburg haben, was glücklicherweise nicht allzu weit von meinem Zuhause in Baden-Baden entfernt ist. Danach feiere ich Silvester im kleinen Kreis mit meiner Frau.
Sind Sie ein Familienmensch?
Ja, ich würde sagen, dass ich ein absoluter Familienmensch bin. Das kommt wahrscheinlich sogar noch vor allem anderen. Ich bin gesegnet, in einer großartigen Familie aufgewachsen zu sein, und diese Werte leben wir auch weiter. Ich habe mittlerweile vier Enkelkinder, und das ist wirklich das größte Geschenk, das man sich vorstellen kann. Es ist immer wieder schön zu sehen, wie wir alle füreinander da sind – das ist etwas ganz Besonderes.
Hintergrund
Marc Marshall wurde am 11. November 1969 in Baden-Baden geboren. Als Sohn des Entertainers Tony Marshall kam er früh mit Musik und Bühne in Berührung. Nach dem Abitur absolvierte er eine klassische Gesangsausbildung, unter anderem an der Musikhochschule in Karlsruhe. Marshall ist ein stilistisch vielseitiger Sänger, der sich souverän zwischen Pop, Jazz, Klassik, Chanson und geistlicher Musik bewegt. Mit seiner warmen, ausdrucksstarken Stimme und starker Bühnenpräsenz begeistert er seit vielen Jahren ein breites Publikum (unter anderem fast 20 Jahre lang als Duo mit Jay Alexander) und aktuell mit den Fünf Tenören.
Die Nacht der 5 Tenöre mit Marc Marshall
Sonntag, 4.1.2026, 18 Uhr, Rudolf-Oetker-Halle, Bielefeld;
Kartern (ab 47,20 ): NW und hier