Es ist die vielleicht älteste Tradition Stuttgarts: Seit über 400 Jahren spielen Turmbläser unter der Woche auf dem Westturm der Stuttgarter Stiftskirche. Wir sind mit hochgestiegen.
Die Stadt wirkt friedlich an diesem Morgen. Die Buden des Weihnachtsmarkts sind noch geschlossen, die Königstraße ist relativ leer. Keine Massen, nur einzelne Fußgänger auf dem Weg zur Arbeit. Darüber die Sonne, deren Strahlen sich durch den Nebel und über den Kesselrand schieben und die Konturen der Stadt goldgelb erscheinen lassen. Einzig die Geräusche der Baustelle an der Ecke Schul- und Königstraße stören das Bild. Doch auch sie sollen bald übertönt werden.
Dass Stuttgart aus der Vogelperspektive am ästhetischsten ist, ist kein Geheimnis. Wohl dem, der die Gelegenheit hat, die Stadt bei Sonnenaufgang vom 61 Meter hohen Westturm der Stiftskirche zu überblicken. Vier Musiker tun dies zwei Mal in der Woche. Die Stuttgarter Turmbläser spielen seit über 400 Jahren früh morgens auf dem Rundgang des Stiftskirchturms. Vielleicht eine der schönsten Traditionen Stuttgarts.
232 Treppenstufen führen auf den Westturm
Die Stadt erwacht zum Klang der Turmbläser. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski
Kurz nach acht Uhr beginnt der Aufstieg. Siegfried Steiger, Jhonnier Buitrago, Mikhail Kashevskii und Frederic Rabold steigen Stufe für Stufe nach oben. 232 Treppenstufen führen über eine steile Wendeltreppe aus Stein und eine noch steilere Holztreppe. Unterwegs passieren sie die Glocken. Durch ein Fenster lässt sich die Größe der Turmuhr erkennen. „Morgensport“, nennt es Jazzmusiker Frederic Rabold. Er ist 81 Jahre alt und geht diesen Weg seit 45 Jahren.
Oben in der Turmstube öffnet sich durch eines der Fenster der Blick auf die noch verschlafene Stadt. Doch bevor es nach draußen geht, spielen sich die Musiker ein. Siegfried Steiger, seit den 90er-Jahren Turmbläser, verteilt die Noten. Gespielt werden dem Kirchenkalender angepasste Lieder, meist Choräle, in der Weihnachtszeit Adventslieder. An diesem Morgen steht „Wie soll ich dich empfangen“ auf dem Programm, ein Adventslied von Paul Gerhardt aus dem 17. Jahrhundert.
„Wir müssen nicht nur notenfest, sondern auch höhentauglich sein.“
Sodann die Glocke 8.45 Uhr schlägt, öffnen die Musiker die Türe der Turmstube und treten auf die Außengalerie. Ein schmaler Rundgang ist das, der Stein etwas nass vom Nebel der Morgenstunden. „Wir müssen nicht nur notenfest, sondern auch höhentauglich sein“, sagt Steiger und blickt auf die wenigen Zentimeter Stein, die sie vom Abgrund trennen. Dann beginnt das Spiel. Zwei Verse erklingen, die Musik der Trompeten und Posaunen erklingt über den Dächern Stuttgarts.
Der Ausblick, der Sonnenaufgang, die Buden des Weihnachtsmarkts und dazu die Blasmusik. Das ist fast kitschig. Als die Musiker ihre Instrumente absetzen, winken sie. Und ganz da unten winken sie zurück. Menschen, die zur Arbeit gehen oder ihren ersten Kaffee auf der Dachterrasse trinken. Man meint, sie lächeln zu sehen, auch wenn sich das aus 61 Metern Höhe natürlich nicht genau sagen lässt. Insgesamt drei Mal wiederholen die Männer ihr Spiel, an drei verschiedenen Stellen der Galerie.
Ein Symbol für Kontinuität und Verlässlichkeit in Zeiten von Hektik
Im Mittelalter hielten Turmbläser, auch Türmer genannt, Ausschau nach Gefahren wie feindlichen Angreifern und Feuer. Gespielt wurde auf Zinken und Posaunen ohne Züge. Heute ist das anders, gespielt wird immer dienstags und donnerstags um 8.45 Uhr, auch bei Regen, nur in den Sommerferien wird pausiert. „Für mich ist es eine Ehre, diese alte Tradition fortzuführen“, sagt Mikhail Kashevskii. Der Posaunist kommt aus Russland und studiert an der Stuttgarter Musikhochschule. Wie die anderen kam er auf Empfehlung zu den Turmbläsern. Neben der Musik und der Aussicht sei vor allem der Austausch mit den anderen Bläsern wertvoll, ergänzt Jhonnier Buitrago. In der aktuellen Besetzung treffen vier Nationalitäten aufeinander: Kashevskii aus Russland, Buitrago aus Kolumbien, Rabold aus Frankreich und Steiger aus Deutschland. Die Bezahlung sei nicht der Rede wert, eher eine kleine Aufwandsentschädigung für Spritkosten oder Zugtickets.
Immer wieder ist die Zukunft der Turmbläser ungewiss, die Finanzierung teils problematisch. Stand heute sei die Arbeit bis Ende des Jahrzehnts gesichert und werde aus städtischen Zuschüssen und Spenden getragen, teilt der Pfarrer der Stiftskirche, Matthias Vosseler mit. „Für mich wäre es schön, wenn diese vielleicht älteste Tradition der Stadt, die nach wie vor regelmäßig durchgeführt wird, auch über dieses Jahrzehnt hinaus Bestand hätte“, sagt Vosseler. „Die Turmbläser sind in einer oft hektischen und von vielen Wechseln geprägten Innenstadt ein Punkt der Kontinuität und der Verlässlichkeit.“